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MOTHERBOARD

Januar/Februar 2016

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Wenn in Pop oder Rock sozialisierte Künstler plötzlich auf Vocals und feste Songstrukturen verzichten und Ambient oder Neoklassik fabrizieren, kann das viele Gründe haben. Naheliegende sind Arbeiten für Film oder zeitgenössischen Tanz. So vertont die finnische Freakfolk-­Ikone Lau Nau regelmäßig Stummfilme. Ihr Soundtrack zu Lotta Petronellas Dokumentation Hem. Någonstans (Fonal) geht über simple Auftragsarbeit, über Stimmungen bedienendes Beiwerk allerdings weit hinaus. Die schiere bezwingende Schönheit ihrer digital verfremdeten Miniaturen aus verhallendem Piano und Jouhikko, der immer leicht verstimmt klingenden karelischen Leier, straft die prosaische, unterstützende Funktion ihrer Musik als Filmscore Lügen.


Stream: Lau NauMetsä Ja Meri

 


 

Bei Benoît Pioulard hat der Wunsch einfach mal was anderes machen zu wollen ins innerste Zentrum der horizontalen Soundwelt geführt. Die verrauschte Wärme, die leicht kratzig widerhakende Geschmeidigkeit seines Albums Noyaux (Morr) bringen auf den Punkt, was Ambient aktuell auszeichnet und wieder spannend gemacht hat: eine gefährdete Balance von Anziehung und Abstoßung, Harmonie und Zufall, Volumen und Nähe.


Stream: Benoît PioulardNoyaux

 


 

In extremeren, metastabilen Zuständen findet sich dieses Gleichgewicht auf A Fragile Geography (Room40) von Rafael Anton Irisarri, Pioulards Partner bei den Shoegaze-­Poppern Orcas und mit seinem Postrock­-Pseudonym The Sight Below schon ein Klassiker des Genres. Unter eigenem Namen bedient er sich vorwiegend Elementen von Feedback, Noise, Drone, Granularsynthese um eine schmerzvoll gefühlsbetonte und leidenschaftlich durchdringende Klanglawine auszulösen, die gerne mal ans Limit der mit Musik noch ausdrückbaren Gefühle geht.


Stream: Rafael Anton IrisarriEmpire Systems

 


 

Subsiding (Future Sequence), das zweite Album des Iraners Siavash Amini steht Irisarri an klanglicher Dichte und gemütsschwerer Intensität kaum nach. Obwohl sie vor allem dem Prinzip der Überwältigung gehorcht, überzeugt seine spezifische Mischung von schweren Feedback­Drones und spätromantischer Neoklassik in ihrer unmittelbaren Verständlichkeit.


Stream: Siavash AminiSubsiding

 


 

Auch Thomas Bücker alias Bersarin Quartett trägt gerne etwas dicker auf. Die breitwandigen Streicherarrangements seines dritten Albums III (Denovali) schwelgen nur zu gerne in theatralischer Ergriffenheit. Und doch wirkt die Sehnsucht die die Stücke transportieren authentisch, organisch eingebettet in aufrichtig gefühlte Melancholie. Selten war ein gerüttelt Maß an instrumentalem Pathos so sinnvoll wie hier.


Stream: Bersarin QuartettSanft verblassen die Geschichten

 


 

Die Wechselbeziehung von Mikrostruktur, kleinsten Sounddetails und dem atmosphärischen Fluss des großen Ganzen ist die Domäne der Dark Ambient Soundscapes des Italieners Saffronkeira. Die brillante Produktion von Synecdoche (Denovali) vereint stark oxidierte Klassikfragmente und gleißende Synthieflächen mit stählernem Industrial­-Dubs. Da gilt ganz klar Kopfhörerpflicht.


Video: SaffronkeiraChthonian (w/ Mia Zabelka)

 


 

Das Debüt des belgischen Duos (Achtung, Wortspiel) Lilly Joel führt die lärmaffine Kompostierung harmonischer Freiheiten in verblüffende Extreme. What Lies In The Sea (Sub Rosa) kennt keine Sicherheiten und, vor allem in der wandlungsfähigen Stimme Lynn Cassiers, keine Standards. So erscheint aus der an sich disparaten Konfrontation von Noise, Ambient und Free Jazz eine schlüssige neue Spezies elektronischer Popmusik.


Video: Lilly JoelA Wheel In The Palm Of Your Hand

 


 

Bei Lucrecia Dalt ist es gerade umgekehrt. Wenn sie singt, dann zu eher konventionell bezaubernder Popmusik. Verzichtet sie jedoch auf den Einsatz ihrer Stimme wird es meist experimenteller und gewagter. OU (Care Of Editions) ist so ein Fall. Hibbelig rhythmisierte Klangkörnchen treffen auf krautologische Synthieblubberbläschen und ein interessantes experimentelles Geschäftsmodell: durch den Verkauf physikalischer Tonträger wird der Download subventioniert, was soweit geht, dass am Ende, nach dem Ausverkauf der Vinyl-­Edition, der herunterladenden Kundschaft sogar noch Geld überwiesen wird.


Stream: Lucrecia DaltFloto (Diamagnet / Cae / Cathexis)

 


 

Vaporwave war ein streng anonymer Internethype der in Cut-­Up-­Ästhetik mit Popsongs der digitalen Steinzeit spielte. Im Verzicht auf Samples und Zitatehaben 2 8 1 4, zwei der wichtigsten Vapor-­Protagonisten Hong Kong Express und t e l e p a t h テレパシー能力者, ihr Genre auf die Füße gestellt und nur einen sacht nostalgischen Vibe behalten. So haben sie mit 新しい日の誕生 (Dream Catalogue) eines der eindringlichsten Chill­-Out-­Ambient Alben dieser Tage angefertigt. Dank einer Crowdfunding Kampagne jetzt endlich auch auf Vinyl.


Stream: 2 8 1 4悲哀

 


 

All diese grenzbefreit schönen und emotional überbordenden Alben (sowie die vielen ebenso guten, die es dieses Jahr nicht in die Kolumne geschafft haben) bekräftigen qualitativ wie quantitativ was für ein starkes Jahr 2015 für ozeanische Klänge, Ambient, Drone und Verwandtschaft war – womöglich das stärkste überhaupt. Auch die Pop­affine Electronica hatte heuer eine Menge zu bieten, wenn auch weniger augenfällig im Auftritt. Das Debüt der Wiener Indietroniker Hearts Hearts ist da exemplarisch. Young (Tomlab) bindet ausgefeiltes Songwriting mit detailveredelter Analogsynthie­Melancholie a la The Notwist in ein großes Album und läutet damit die glückliche Wiederauferstehung des eigenwilligen Labels Tomlab ein.


Video: Hearts Hearts ­– Hunter Limits

 


 

Zwei Karrieren sind anstrengend, aber offenbar nicht für jeden. Der unermüdliche ME Raabenstein pendelt scheinbar mühelos zwischen bildender Kunst und Musik. Die lässige Electronica von Language Is A Spy (Nonine) ist gerade deswegen so gelungen weil sie die spielerische Aura des jammend aus dem Moment entstandenen Beiproduktes geradezu kultiviert.


Video: ME RaabensteinLanguage Is A Spy

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