Interview: Florian Obkircher
Erstmals erschienen in Groove 145 (November/Dezember 2013)
Legende ist ein abgegessenes Wort. Pionier auch. Aber was soll man sagen über eine Band, die Industrial mitbegründet und EBM vorgefühlt hat? Über ein Trio, das schon 1980 Maschinen-Funk mit nahöstlichen Klängen vermählt und sich dann binnen drei Jahren zum subversiven Dance-Act gewandelt hat? Eben. Cabaret Voltaire waren in ihrer Karriere stets am Puls der Zeit – und ihr zum Teil sogar voraus. Dies belegt die neue Werkschau #8385 (Collected Works 1983 – 1985) eindrucksvoll. Genau wie Richard H. Kirk selbst im Interview, wenn das letzte verbliebene Mitglied von Cabaret Voltaire über die Sheffield-Rivalität mit The Human League spricht. Oder über seinen Chicago-Trip zur Hochzeit des Acid-House und die ersten Tage von Warp Records. Ein Blick in die Vergangenheit einer Band, die stets nach vorne schaut.
Mister Kirk, Sie genießen den Ruf als einer der tüchtigsten Männer im Techno-Geschäft. Wann hatten Sie ihre letzte Nachtschicht im Studio?
Das ist schon etwas länger her. Die Arbeit an den Wiederveröffentlichungen von Cabaret Voltaire hält mich seit eineinhalb Jahren ziemlich auf Trab. Wenn ich dazwischen Zeit finde, bastle ich an einem neuen Album, das unter meinem bürgerlichen Namen erscheinen soll. Wann? Keine Ahnung. Ich bin kein junger Mann mehr, ich habe keine Eile.
Apropos junger Mann: Wie sah Sheffield in Ihrer Jugend aus?
Sheffield war grau. Eine große Industriestadt. Viele Gebäude waren durch Bomben im Zweiten Weltkrieg beschädigt worden. Es sah aus wie die Landschaft in einem J.G.-Ballard-Roman. Ganz anders als heute. Es hat sich viel getan. Ich erkenne die Stadt zum Teil kaum wieder. Und das ist gut so.
Ihr Vater war Stahlarbeiter. In seiner Freizeit bastelte er an alten Radios und Elektronikgeräten herum. Hat das Ihre Lust am Experimentieren geweckt?
Kann man so sagen. Mein Vater starb als ich 17 war. Dadurch erbte ich viel von seinem Zeug: Fotoapparate, Filmkameras und Verstärker. Zum Teil verwendeten wir dieses Equipment anfangs sogar bei Cabaret Voltaire. Er vermachte mir außerdem viele Bücher. Auch so hat er mich stark geprägt.
Als Stephen Mallinder, Chris Watson und Sie 1973 Cabaret Voltaire gründeten, gab es da in ihrem Umfeld eine musikalische Tradition auf die Sie sich berufen konnten – oder wollten?
Eine experimentelle Musikszene hatte Sheffield keine. Es gab schmalzige Sänger wie Tony Christie. Und schlechte Cover-Bands. Nichts, womit man als Jugendlicher etwas zu tun haben wollte. Viele von uns waren Fans von Roxy Music. Und im Speziellen von Brian Eno, der uns wiederum auf deutsche Bands dieser Zeit aufmerksam machte, etwa Neu!, Can und Harmonia. Diese kosmische Musik faszinierte uns, diesen Bands fühlten wir uns nahe.
Können Sie sich an Ihre ersten musikalischen Schritte erinnern?
Chris richtete im Haus seiner Eltern einen kleinen Proberaum ein. Da trafen wir uns dreimal die Woche. Keiner von uns konnte Noten lesen oder ein Instrument spielen. Deshalb gab es nur eine Möglichkeit um unsere Experimente festzuhalten – nämlich sie aufzunehmen. Das ist der Grund, warum es so viel frühes Material von Cabaret Voltaire gibt, das später sukzessive veröffentlicht wurde. Wir machten drei Stücke pro Abend – und alles wurde auf Band mitgeschnitten.
Sie erwähnten die Bücher Ihres Vaters. Und dann ist da natürlich der Bandname, der auf die Dada-Bewegung verweist. Literatur und bildende Kunst scheinen in Ihrer Jugend eine wichtige Rolle gespielt zu haben.
Vor allem die Bücher von William Burroughs und die Filme von Luis Buñuel. Es gab damals ein kleines Kino in Sheffield, in dem abends surrealistische Filme liefen. Da hingen wir dauernd ab. Man traf dort seltsame Künstlertypen. Typen wie Adi Newton von Clock DVA und Martyn Ware von The Human League.
„Progressive-Rock-Bands, diese klassisch ausgebildeten Musiker, wir hassten sie.“
Ian Burden von The Human League meinte einmal sinngemäß über die frühe Sheffield-Szene: „Wir wollten den Rock’n’Roll umbringen.“ War das auch Ihr erklärtes Ziel?
Die Dadaisten sagten, sie wollen die Kunst zerstören. Oder noch besser: alles, was vor ihnen war. Wir hatten sicher einen ähnlichen Ansatz der Musik gegenüber. Damals beherrschten Progressive-Rock-Bands die Stadt. Diese klassisch ausgebildeten Musiker, wir hassten sie. Das war alles so pompös. Wir fühlten uns dem aufkeimenden Punk viel näher. Die Szene war aggressiver und anarchischer.
Dieser Rockisten-Hass schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Es geht das Gerücht um, dass Stephan Mallinder bei einem Ihrer frühen Konzerte nach einem Zusammenstoß mit dem Publikum ins Krankenhaus musste.
Das stimmt (lacht), 1975 war das. Dem Veranstalter an dem Abend war eine Band ausgefallen. Chris log ihm vor, dass wir eine Rockband seien. Den Anfang unseres Konzerts nahm das Publikum noch so hin. Aber irgendwann wurde es den Leuten zu viel. Sie attackierten uns – und wir schlugen zurück. Es war verrückt, total chaotisch. Stephen zog sich einen Wirbelknochenbruch zu. Aber zumindest unser Equipment blieb heil.
Wie war das Verhältnis zwischen den Bands der Sheffield-Szene. War man befreundet oder eher cool distanziert?
Ich würde nicht sagen, dass wir Bands untereinander befreundet waren. Man sah sich oft in Bars und auf Konzerten. Es war kollegial, aber natürlich herrschte da eine unterschwellige Rivalität. Ein Beispiel: Mit Cabaret Voltaire waren wir die ersten in Sheffield. Das wussten alle. Aber The Human League veröffentlichten 1978 ihre Debütplatte kurz vor unserer. Einfach weil sie die besseren Kontakte hatten. Das ärgerte uns damals enorm. (lacht)
Noch eine andere Band kam Ihnen leicht zuvor: 1977 veröffentlichte eine junge Gruppe aus Hull ihr erstes Album namens „The Second Annual Report“. Wie haben Sie Throbbing Gristle damals erlebt?
Chris kaufte die Platte kurz nach ihrem Erscheinen. Wir fanden die Band so toll, dass wir denen gleich Briefe und Demos von uns schickten. Eigentlich hätte unser Debütalbum sogar auf Throbbing Gristles Label Industrial erscheinen sollen. Aber die konnten das damals nicht finanzieren, weswegen wir bei Rough Trade landeten.
Auf „Mix-Up“, dem Debütalbum von Cabaret Voltaire, spielen Sie auch Gitarre. Was angesichts Ihres Vorhabens, der Rockmusik in die Eier zu treten, etwas erstaunt.
Unser Feind war die pompöse Rockmusik dieser Zeit. Alten Garage-Rock fanden wir klasse. Jon Savage (Musikjournalist und Punk-Chronist, Anm. d. A.) gab mir damals eine tolle Live-Aufnahme der Sixties-Band The Seeds. Deren Song „No Escape“ coverten wir dann auf unserem ersten Album. Und meine Gitarre kaufte ich mir, weil wir anfangs ja Punk machen wollten. Aber eben rhythmischer und futuristischer.
Die Gitarre klingt bei frühen Cabaret Voltaire-Aufnahmen ohnehin nicht unbedingt nach Gitarre.
Das hat folgenden Grund: In einem Magazin fand ich die Bauanleitung für eine Fuzz-Box, die mir Chris bastelte. Mit diesem Effektgerät klang meine Gitarre extrem verzerrt. Egal was ich spielte, alles krachte – und klang in meinen Ohren fantastisch. Noch besser wurde der Sound dann, als ich die Gitarre zusätzlich durch ein Watkins Copicat schleifte. Ein analoges Tonband-Loop-Gerät, mit dem man irre Echo-Effekte erzielte.
Ein früher Song Ihrer Band heißt „Do The Mussolini (Headkick)“, der von der Grundidee dem Hit „Der Mussolini“ (1981) von DAF verdächtig ähnlich ist. Ein Zufall?
Etwas seltsam ist es schon. (lacht) Ich fand die Musik von DAF damals sehr gut. Vielleicht kannten sie unser Stück. Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle. Denn wir klauten die Idee wiederum bei den Primitives. In deren Song „Do The Ostrich“ heißt es: „Put your head on the floor and have somebody step on it.“ Wir sahen damals ein Video von Benito Mussolinis Exekution. Er wurde hängend von den Leuten so lange in den Kopf getreten wird, bis er tot war. Wir dachten, da könnte man doch auch einen tollen Tanz daraus machen.
Stream: Cabaret Voltaire – Do the Mussolini (Headkick)
1981 erschien „Red Mecca“, das heute als eines der besten Industrial-Alben aller Zeiten gehandelt wird. Hatten Sie bei den Aufnahmen ein gutes Gefühl?
Könnte ich nicht sagen. Nicht anders als bei den Platten davor. Wir dachten beim Aufnehmen nicht viel nach. Wir machten einfach, was uns richtig erschien.
„Wir dachten beim Aufnehmen nicht viel nach. Wir machten einfach, was uns richtig erschien.“
Rückblickend gibt es kaum eine Platte, die die beklemmende Stimmung dieser Zeit besser einfängt: Reagan und Thatcher setzten zum sozialen Kahlschlag an, in Süd-London kam es zu Straßenschlachten…
…und die Platte war auf jeden Fall eine Reaktion auf diese Ereignisse. Thatcher fing 1979 an, die Industrie im Norden Englands abzubauen. Überall wurde gekürzt. Damals gab es drei Millionen Menschen ohne Arbeit. Die Situation in England war der gegenwärtigen dabei nicht unähnlich. Vielleicht sollte jemand ein neues Red Mecca machen, das die momentanen Zustände thematisiert. Aber wer bloß? Wer protestiert heute noch? Ich will nicht wie ein alter Sack klingen, aber es kommt mir so vor als würde die junge Generation meist vorm Computer sitzen und sich in virtuelle Welten flüchten.
Das neue Box-Set setzt kurz nach „Red Mecca“ an. Der kommerzielle Höhepunkt dieser Zeit zwischen 1983 und 1985 war „The Crackdown“, das im Vergleich zu den Vorgängerplatten aufgeräumter und wesentlich elektronischer klingt. Wie kam das?
Das hat viele Gründe. Der wichtigste: Wir nahmen erstmals in einem professionellen Tonstudio auf – mit einem damals jungen, sehr talentierten Produzenten namens Flood. Wir verwendeten außerdem erstmals Sequencer und vermehrt Drum Machines. Weil wir diese neuen Electro-Platten toll fanden, die aus New York zu uns herüber schwappten. Unser Ziel war es, subversive Tanzmusik zu machen. Nicht unbedingt Pop, das hätten wir nicht hinbekommen. Aber wir wollten mehr Leute erreichen. Denn spröde Alben hatten wir zu diesem Zeitpunkt schon genug aufgenommen.
Video: Cabaret Voltaire – Crackdown
Das Album erschien auf Virgin und stieg in die Top-40 der britischen Charts ein. Brachte der Erfolg Credibility-Verluste in der Szene mit sich?
Es war ein Risiko, sicher. Aber ich glaube, der Plan ging auf. Wir betrieben keinen Ausverkauf, wir genossen trotz Major-Label-Vertrag künstlerische Freiheit. Die Situation war damals eine andere. Weil selbst bei den großen Firmen ein paar bekiffte Typen in höheren Positionen saßen, die an gute Musik glaubten. Heute ist das vermutlich anders. Aber dieser Grabenkampf „Underground gegen Mainstream“ existiert heute ohnehin nicht mehr.
Beim Nachfolgewerk „Micro-Phonies“ arbeiteten Sie zum ersten Mal mit einem digitalen Sampler. War die Erfahrung eine Offenbarung nach den Jahren mit Tonband und Schere?
Wir verwendeten für Micro-Phonies in der Tat den Fairlight, aber nur sehr begrenzt. Weil wir uns den Sampler nie hätten leisten können. Der kostete damals an die 100.000 Pfund. Deshalb mussten wir ihn für Sessions anmieten. Samt Programmierer, der das Ding bedienen konnte. Am Ende war der Fairlight den Bandmaschinen aber nicht weit überlegen. Du hattest vielleicht bessere Kontrolle über das Material, aber das war’s dann schon. Wesentlich wichtiger waren die Möglichkeiten des großen Tonstudios. Bis zu Red Mecca hatten wir mit einem Acht-Spur-Aufnahmegerät gearbeitet. Und plötzlich konnten wir so viele Overdubs machen, wie wir wollten.
In diesen Jahren erlebte auch der 12-Inch-Mix eine Hochphase. Als Möglichkeit, Singles auszudehnen und für den Club aufzubereiten. Was Sie eindrucksvoll mit „Sensoria“ und „Crackdown“ demonstrierten. Wie hat das Ihre Arbeitsweise damals beeinflusst?
Es war revolutionär: Wir mixten kurze Teile auf Viertelzoll-Band und setzten sie dann zusammen. Dadurch konnten wir Tracks von einem minimalistischen Intro ausgehend nach und nach aufbauen. Davor war alles auf einem Band. Im Nachhinein konnte man da wenig editieren. Wir lernten in dieser Hinsicht viel von Flood und John Luongo, einem New Yorker Produzent, der davor mit Gladys Knight und The Jackson 5 im Studio gewesen war. Er kam musikalisch aus einer anderen Ecke, verstand unseren Ansatz aber sofort.
Video: Cabaret Voltaire – Sensoria
1988 flogen Sie dann nach Chicago, um dort mit den jungen Acid-House-Protagonisten zusammenzuarbeiten. Marshall Jefferson co-produzierte sogar Ihr Album „Groovy, Laidback and Nasty“.
Jeder kaufte damals 12-Inch-Importe aus Detroit und Chicago, dieser Stoff war eine Offenbarung. Dorthin zu reisen und mit Marshall zu arbeiten, war sehr aufregend. Auch wenn ich das Album rückblickend nicht besonders mag. Es ist einfach zu milde, zu harmlos für Cabaret Voltaire. Die Erfahrung selbst war aber fantastisch. Marshall und Mike (Dunn, Anm. d. A.) nahmen uns mit in Clubs, wo außer uns keine Weißen waren.
Video: Cabaret Voltaire – Keep On (I Got This Feeling)
Kannte man Cabaret Voltaire in Chicago?
Wir wurden dort wie Könige behandelt. Man kannte uns. Die Innovatoren des Chicago House selbst aber nicht. Und das war sehr seltsam: In England wurden die Platten der Jungs gefeiert, aber in Amerika krähte kein Hahn nach House. Das wurde damals noch als schwules Disco-Zeug abgetan.
Das führt uns direkt zum britischen Summer of Love von 1989. Wie haben Sie den erlebt?
Alle waren high. Manche durch die Musik, manche durch Pillen. Das ist kein Geheimnis. Was wichtiger ist: Die Stimmung in den Clubs Mitte der achtziger Jahre war durch Koks total aggressiv. Mit Ecstasy änderte sich das. Alles war viel freundlicher. Und die Platten aus Chicago und Detroit waren der perfekte Soundtrack für diesen Stimmungswandel. Sie waren melodiös und gleichzeitig extrem kraftvoll. Das alles trug dazu bei, dass ich selbst wieder anfing in Clubs zu gehen. Ich hatte eigentlich schon kapituliert.
Im selben Jahr startete in Ihrer Heimatstadt ein neues Label namens Warp. Ein Label, für dessen Katalognummer 3 unter anderen Sie verantwortlich sind.
Ich fing damals an, mit meinem guten Freund namens DJ Parrot Musik zu machen. Er leitete unter anderem den Jive-Turkey-Club in Sheffield. Das war anfangs gar nichts Ernstes, wir spielten einfach im Studio herum. Bleep-Techno war ja rückblickend auch eher ein Unfall. Zumindest dachten wir uns nicht, lass uns da viele Bleeps in den Track packen. Die erste Bleep-Band für mich sind ohnehin Kraftwerk. Aber gut, jedenfalls gefielen den Jungs von Warp die Tracks, die wir da als Sweet Exorcist zimmerten.
Video: Sweet Exorcist – Testone
Zu diesem Zeitpunkt waren Sie schon zwanzig Jahre im Musikgeschäft. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre neuen Tracks diesen Grünschnäbeln anzuvertrauen?
Das waren gute Jungs, die waren total enthusiastisch. Sie kannten mich, weil ich der Typ war, der ein 24-Spur-Tonstudio in Sheffield hatte. Und etliche Musiker bei mir aufnehmen. Man muss sagen: Viele der Leute aus dem Warp-Umfeld wuchsen ja gar nicht in Sheffield auf, die kamen zum Studieren in die Stadt. Und viele von ihnen kamen gerade wegen der vitalen Musikszene, die wir mit Kollegen wie The Human League und Clock DVA begründet hatten. Von daher hatte Cabaret Voltaire sicher einen gewissen Einfluss auf die Anfänge von Warp Records.
Ab 1994 war es lange still um Cabaret Voltaire. Sie arbeiteten unter neuen Namen wie Electronic Eye und Sandoz. Bis das Band-Pseudonym 2009 recht unverhofft wieder auftauchte. Nämlich als Remixer der neuseeländischen Dub-Band Kora. Wie kam es dazu?
Ganz einfach: Ich wurde gefragt. Von Amrik Rai, der früher Cabaret Voltaire managte und heute das Label Shiva betreibt, auf dem Kora veröffentlichen. Ich sah mir die Band live an und fand sie klasse. Meine Remixe fielen dann so düster aus, dass ich dachte, Cabaret Voltaire wäre der passende Name dafür.
Wer ist Cabaret Voltaire heute?
Das bin ich mit verschiedenen Kollaborateuren. Und eines ist klar: Es wird keine Reunion im klassischen Sinn geben.
Weil Mallinder mit seinem neuen Projekt Hey, Rube! beschäftigt ist und sich Watson seit seinem Ausstieg 1981 den Vogelstimmen widmet?
Nicht nur den Vogelstimmen! Chris ist Spezialist für Naturaufnahmen. Er arbeitete zum Beispiel an David Attenboroughs BBC-Dokus mit. Ich traf ihn gerade gestern Nacht in einer Galerie, wo er seine neue Ausstellung eröffnete, für die er Sheffield klanglich vermessen hat: „Inside the Circle of Fire: A Sheffield Sound Map“. Tolles Projekt.
Was dürfen sich Ihre Fans dann von der Reinkarnation erwarten?
Ich plane Projekte in Richtung bildender Kunst und Film. Und ich kann mit Sicherheit sagen: Bei kommenden Cabaret Voltaire-Konzerten wird man „Crackdown“ oder „Just Fascination“ nicht hören. Aus finanzieller Sicht wäre es natürlich eine Überlegung wert, aber das ist mir echt egal. Wegen dem Geld hab ich nie Musik gemacht. Es würde sich anfühlen als ob ich mein jüngeres Ich betrügen würde.
Aber können Sie diese Lust am weichen Glück der Nostalgie aus Fan-Perspektive nachvollziehen? Wie sieht es mit den aktuellen Shows von Kraftwerk aus?
Gut, Kraftwerk sind die einzigen, denen ich das durchgehen lasse. Eben weil ich totaler Fan bin. Ich sah sie vor kurzem auf einem Festival hier in England. Sie klingen noch immer verdammt gut. Und ich hätte liebend gern ihre „The Catalogue“-Shows in der Tate Modern gesehen. Wenn ich daran denke, werde ich fast ein wenig wehmütig. Denn wer weiß, wenn Chris damals nicht ausgestiegen wäre und Stephen nicht für 15 Jahre nach Australien gegangen wäre, vielleicht würden wir heute etwas Ähnliches machen. Der Unterschied ist aber natürlich: Kraftwerk haben zwar eine Zeit lang keine neue Musik gemacht, sie waren aber nie ganz weg. Aber du kannst nicht aus dem Nichts zurückkommen und versuchen, die Vergangenheit wiederzubeleben. Für Spätgeborene und Nostalgiker gibt es ja deshalb unsere Box-Sets mit den Live-DVDs von damals. Bei Cabaret Voltaire war unser Blick von Anfang an nach vorne gerichtet. Und das wird sich nicht ändern.
Drei Klassiker von Cabaret Voltaire
Three Mantras (Rough Trade, 1980)
Ein oft übergangenes Juwel in der Diskographie. Übergangen vermutlich, weil es mit der rauen Energie und dem zackigen Stil der frühen Hits wie „Nag Nag Nag“ wenig gemein hat. Auf Three Mantras wandelt das Trio auf den Spuren der kosmischen Brüder aus Deutschland. Zwei – und nicht drei, wie der Titel andeutet – Stücke, die jeweils eine Plattenseite füllen: „Western Mantra“ und „Eastern Mantra“. Natürlich fallen sie durch Watsons verzerrte, rückkoppelnde Synthesizer und Tape-Spielereien etwas räudiger aus als die hypnotischen Epen der Krautrock-Kollegen, aber genau darin besteht rückblickend der Reiz dieser Platte. Außerdem markiert Three Mantras den Ausgangspunkt von Kirks Beschäftigung mit östlicher Musik, die ihn bis heute fasziniert.
Red Mecca (Rough Trade, 1981)
Was für ein beklemmendes Meisterwerk. Den Kurs setzt schon der erste Track „Touch of Evil“. Eine Cover-Version von Henry Mancinis Titelsong für Orson Welles’ gleichnamigen Film. Cabaret Voltaire ersetzen den verschwitzten Mambo-Vibe des Originals durch verschrobene Synthesizer. Gleich im Anschluss der Hit des Albums: „Sly Doubt“ ist Industrial-Funk in Reinform. James Brown im Blaumann. Mallinders gemurmelte Hasstiraden sind kaum verständlich, weil sie unter Effekten begraben liegen, was sie noch bedrohlicher klingen lässt. Zum ersten Mal gelingt es Cabaret Voltaire hier Stimmung und Spannung auf Albumlänge aufrecht zu halten. Das großartige Instrumental „Landslide“ könnte zum Beispiel statt zwei Minuten gern dreimal so lang weiterpochen.
The Crackdown (Virgin, 1983)
Das Album erschien nur zwei Jahre nach Red Mecca, macht aber ein ganz neues Fass auf. Marschierende Drum Machines, New-Wave-Gitarren – und noch mehr industrieller Funk. Dazu Schulterpolster am Cover und ein neues Bandlogo, designt von Neville Brody. Ob dieser Wandel mit dem Ausstieg von Chris Watson zu tun hat? Sicher. Genauso wie die Electro-Welle, die durch Platten wie „Planet Rock“ von New York nach Sheffield schwappte. Perfektion findet der neue Sound in Songs wie „Crackdown“ und „Just Fascination“, auf deren Schultern das Album sogar in die britischen Top-40 einstieg. Damit ist The Crackdown nicht nur das erfolgreichste, sondern vielleicht auch innovativste Album von Cabaret Voltaire.