Text: Sebastian Ingenhoff
Erstmals erschienen in Groove 143 (Juli/August 2013)
Vor zwanzig Jahren eröffneten Wolfgang und Reinhard Voigt gemeinsam mit den Freunden Jörg Burger und Jürgen Paape in der Gladbacher Straße in Köln ihren ersten eigenen Plattenladen, damals noch als rheinischer Ableger des Deliriums. Wolfgang Voigt und Jörg Burger hatten sich seinerzeit schon als Produzenten einen Namen gemacht und veröffentlichten vorwiegend auf eigenen Labels wie Trance Atlantic oder Structure. Aus dem Freundeskreis rund ums Delirium entwickelte sich allmählich jene spezielle Technovariante, die als „Sound Of Cologne“ um die Welt gehen sollte.
Ab 1998 wurden die Freundeskreisaktivitäten rund ums Delirium unter dem Banner von Kompakt gebündelt. Fast zeitgleich startete im kleinen Kellerclub Studio 672 die eng mit dem Label verbundene Partyreihe Total Confusion, deren Residents Michael Mayer, Tobias Thomas und Superpitcher zu weltweit gebuchten DJs wurden. Seitdem hat sich viel getan. Wolfgang Voigt ist nach kreativer Auszeit fast so produktiv wie einst und hat kürzlich mit seinem Bruder Reinhard das erste gemeinsame Voigt & Voigt-Album veröffentlicht. Auch das Label hat sich zunehmend internationalisiert und Künstler wie WhoMadeWho, The Field oder Gus Gus aufgenommen. Anlässlich des Jubiläums bat Groove Wolfgang und Reinhard Voigt zum Gespräch über zwanzig Jahre Techno aus Köln.
Wolfgang und Reinhard, nach zahlreichen gemeinsamen Maxis habt ihr in diesem Jahr euer erstes Voigt & Voigt-Album abgeliefert. Warum hat es so lange gedauert bis zur Zusammenarbeit auf Albumlänge?
Wolfgang: Bei mir hatte ja erst in den letzten Jahren wieder eine Rückbesinnung auf die eigene Kreativität stattgefunden. Sprich, mich weniger um die Vermarktung anderer zu kümmern, sondern selbst aktiv zu werden. Der alte Voigt & Voigt-Geist war zuletzt eher in Richtung bierseligen Techno gewandert. Das kulminierte dann in den Erdingertrax. Aber es ist ja bekannt, dass wir auch sehr stark durch Achtzigerjahre-Popmusik geprägt sind, und so haben wir diesmal versucht, uns von etwas anderen musikalischen Visionen treiben zu lassen. Nach dem Motto: Mit diesem Geist und der geraden Bassdrum im Gepäck gehen wir jetzt mal ins Studio und machen uns locker. Ohne aber die musikalischen Inspirationen kopieren zu wollen.
Reinhard: Wenn man sich entschließt, ein Album zu veröffentlichen, dann braucht man ein Konzept, das über das hinausgeht, was man sonst macht. Es sollte etwas anderes sein als Erdingertrax oder der Techno, den man von uns kennt. Nicht einfach zehn Tracks aneinandergereiht. Letztes Jahr kamen die ersten Skizzen, was man musikalisch machen könnte. Wolfgang fand die Idee auch gut, und gemeinsam im Studio zu sein, macht ja ohnehin mehr Spaß. Die ganze Reife und musikalische Ausrichtung war vorher vielleicht nicht so da, wie es auf Albumlänge sein sollte.
Wolfgang, du scheinst heute ohnehin produktiver denn je zu sein. Woran liegt das?
Wolfgang: Das hat verschiedene Gründe. Nachdem ich bis etwa Ende der Neunziger schon mal hysterisch kreativ war, hatte ich mich lange Zeit mit dem Aufbau der Firma Kompakt beschäftigt. Mit der Kunst des Firmenmachens, sprich Design, Aufbau von Strukturen, Vermarktung. Ich betrachte das aber auch als kreativen Akt. Als wir 2008 die Gas-Alben wiederveröffentlicht haben, fing es an, dass sich die Kreativität wieder vermehrt auf die Musik verlagert hat. Das Interessante aus meiner Sicht ist, dass ich es heute freier mache denn je. Das liegt daran, dass ich nach Jahren der Pause nicht wieder da anfangen wollte, wo ich mit Studio 1 oder so aufgehört hatte. Das gibt es ja schon und das machen andere heute viel besser. Ich versuche mich möglichst frei zu machen, sodass ich auch mal in anderen Ecken wühle und teilweise ganz abstruse musikalische Ergebnisse hervorbringen kann. Der Musikmarkt hat sich ja in die Richtung entwickelt, dass es ohnehin keine Verkaufserwartungen mehr gibt. Für jemanden, der in einer Musikfirma arbeitet, mag das schwierig sein. Man kann das aber auch als Chance betrachten. Mich macht das insofern frei, als dass ich mich an musikalische Visionen herantraue, die ich sonst vielleicht nicht umgesetzt hätte. Weil es mir noch egaler ist, wer was dazu meint.
Inwiefern begreifst du das Firmenmachen als Kunstform?
Wolfgang: Ich brauche alle paar Jahre Abwechslung. Wenn ich merke, dass ich irgendwo zu etabliert werde, ist das nicht gut. In den Neunzigern hatte ich mich überwiegend nur um meine eigene Musik gekümmert. So ab 1998 wurde dann die Firma immer erfolgreicher, es folgte die berühmte Umbenennung in Kompakt. Vorher waren das alles irgendwelche kleinen Labels, die im Plattenladen Delirium zusammenliefen. Ich habe die Gründung von Kompakt auch als künstlerische Arbeit betrachtet. Ich hatte natürlich keinen Masterplan. Ich bin kein Businesstyp und mir ging es nie primär ums Geldverdienen. Aber Ende der Neunziger hatte sich speziell in Köln-Innenstadt so eine Bohème-Haltung entwickelt, wo plötzlich jeder auf Künstler gemacht hat. Gerade da fand ich es schön zu sagen: Ich bin jetzt Buchhalter. Ich fand dieses Bürokratending total sexy und gut. Ich war auf einmal nicht mehr der Mike Ink. mit der Acid-Bassdrum, sondern eben Verlagsgründer. Ich hatte mir sogar extra andere Klamotten angezogen, um so rüberzukommen. Für mich war das wie ein Kunstprojekt. Ich war immer begeisterter Verpacker und Werber, hatte immer viele Ideen für Logos, Layouts und Imageprägung. Gegen Ende der Neunziger war es natürlich auch so, dass wir immer mehr Demos von außerhalb bekamen, aus aller Welt. Die kamen von Leuten, die uns klasse fanden, die aber auch unseren Nerv getroffen haben. Auf Basis dessen, was damals schon Kompakt-Musik war. Nur der Name fehlte halt noch. Es hat einfach große Freude gemacht, diese Leute zu inszenieren und zu verpacken. Daher kommt auch der vielzitierte Vergleich mit Andy Warhols Factory. Dieses Serielle liegt mir einfach. Der Unterschied war plötzlich nur, dass ich nicht mehr meine eigenen Musik seriell inszenierte, sondern die von anderen. Das Serielle gehört ja zum Techno dazu. Lange Zeit hieß es nicht: Habt ihr die neue Michael Mayer oder Schaeben & Voss, sondern: Habt ihr die Kompakt 36? So wurde Techno kommuniziert – nach Zahlen, Nummern und Farben. Dieses Kinderspiel hat mich seit jeher begeistert.
Inwieweit hat sich das geändert im Laufe der Zeit?
Wolfgang: Früher gab es halt die berühmte schwarze Technomaxi, bei der keiner wusste, wer dahinter steckt. Das ist heute nur noch selten der Fall. Aber das hatte natürlich etwas unglaublich befreiendes. Auf einmal hatte der pickelige Floristikstudent aus der Vorstadt die Möglichkeit, Platten zu machen, ohne irgendwelche Vorurteile. Das war das Geniale daran und das war auch richtig. Weil es eben diese ganzen Strukturen mit Star-Anbetung und so weiter aus dem Amt gekickt hat. Aber wie so viele subversive Modelle hatte es irgendwann ausgedient. Heute sagt man: Auch Techno braucht Stars und glamouröse Typen. Das ist der ganz normale Lauf der Dinge.
„So wie andere Leute nach der Arbeit joggen müssen, um runterzukommen, schraube ich eben Beats.“ Reinhard Voigt
Reinhard, den glamourösen Job des Buchhalters hast du übernommen. Als Musiker trittst du nur noch sporadisch in Erscheinung. Stattdessen sitzt du in Hemd und Krawatte vor dem Rechner. Machst du die gleiche Entwicklung durch wie Wolfgang damals?
Reinhard: (lacht) Mir macht das halt sehr viel Spaß, und wenn es um die eigene Firma geht, ist man ja sehr motiviert. Die Mitarbeiter sind alles Leute aus dem Freundeskreis, die teilweise Kinder haben und in die Altersvorsorge einzahlen. Das hat alles mit Verantwortlichkeiten und wirtschaftlichen Wahrhaftigkeiten zu tun. Ich bediene ja nach wie vor die Maschinen, nur sind es eben andere Maschinen. Das Tolle bei uns ist, dass wir alles unter einem Dach haben – Büro, Plattenladen, Vertrieb, Studio. Wolfgang, Jörg (Burger, Anm. d. A.) und ich wohnen ja auch hier in dem Haus. Theoretisch bräuchte ich das Gebäude eine Woche lang nicht verlassen, weil ich hier alles habe, was ich brauche. Ich kann abends den Computer runterfahren, die Krawatte lockern, runter ins Studio gehen und Beats schrauben. Aber ohne jeden Druck. So wie andere Leute nach der Arbeit joggen müssen, um runterzukommen, bastele ich eben ein bisschen herum. Ab und an spiele ich ja auch noch live, aber halt nicht mehr so oft. Mir reicht das völlig, ich muss nicht mehr jedes Wochenende um die Welt jetten. Man wird ja auch nicht mehr jünger.
Die Zahl der Veröffentlichungen ist in den letzten Jahren konstant geblieben. Wie entscheidet ihr, was ihr herausbringt?
Wolfgang: Man hat natürlich kompetente Leute um sich herum und nimmt Reaktionen wahr. Was meine eigenen Veröffentlichungen angeht, muss ich niemanden um Erlaubnis fragen. Ich habe zum Glück die Freiheit, Sachen machen zu können, die ich machen möchte. Aber selbstverständlich bin ich nicht allwissend. Ich kann permanent Platten machen, die kein Schwein versteht, das ist klar. Bei der hauseigenen Musik ist es immer so gewesen, dass Michael Mayer und ich als Doppelspitze der A&R-Abteilung den Großteil der Entscheidungen getroffen haben. Er aus der DJ-Denke, ich aus der Produzentenwarte. Aber mit gegenseitigem Verständnis füreinander, dass Michael eben auch Popart-erprobt ist und ich genug von DJ- und Clubkultur verstehe, um meinen Senf dazugeben zu können. Auf die Art haben wir zwischen 1998 und 2008 immer die Entscheidungen getroffen. Die letzten Jahre hat Michael mehr und mehr übernommen, weil ich mir den Kopf freihalten möchte. Zuviel Musik hören ist nicht gut für meine eigene Musik. Das Tolle bei Kompakt, wo eben so viele kreative Geister arbeiten, ist ja, dass ich auch mal sagen kann: Jetzt bleibe ich ein halbes Jahr im Hintergrund und muss mir trotzdem keine Sorgen um die Entwicklung des Labels machen.
Ihr kennt euch alle schon sehr lange und seid eng miteinander befreundet. Ist es einfacher, Freunde auch mal zu kritisieren, oder erschwert das eher die Sache?
Wolfgang: Beides. Man kennt sich natürlich und muss kein Blatt vor den Mund nehmen. Wenn einer sagt: Ich mag keinen Schaffeltechno, dann heißt das: Nerv mich nicht, du weißt doch, ich steh nicht auf Schaffeltechno. Andererseits ist klar, dass man über die Jahre vielleicht auch mal betriebsblind werden kann und sich irgendwie festsetzt. Oder es sich zu einfach macht. Ich glaube, dass wir nach wie vor für eine sehr differenzierte Sicht auf Musik stehen. Wir haben aber gelernt, den Künstlern eine lange Leine zu geben und zu sagen: Mach du mal dein Ding auf deiner Baustelle. Das wird schon klappen.
Reinhard: Ich finde es eher ein bisschen schwerer, wenn man sich so gut kennt. Aber im besten Fall kommt eine Diskussion zustande, von da an ist Kritik in meinem Fall schon sehr willkommen. Halt dieser Mut zur Ehrlichkeit. Das bringt einen als Künstler ja auch weiter.
„Wir finden auch Detroit und Berlin klasse, aber wir machen eben etwas anderes.“ Wolfgang Voigt
Mit der Zeit wurde das Label immer internationaler. Nicht nur, dass die Platten international extrem erfolgreich wurden, sondern auch, dass bekanntere Künstler wie Gus Gus oder WhoMadeWho hinzukamen.
Wolfgang: Das hatte sich alles aus einem natürlichen Flow ergeben. Man hatte damals den Rückenwind des weltweit boomenden Technomarkts, in musikalischer, inhaltlicher, wirtschaftlicher und spiritueller Hinsicht. Vor zehn Jahren mussten die Majors dann Federn lassen, weshalb man Künstlern wie Gus Gus oder WhoMadeWho, die eigentlich in der Majorliga spielen, plötzlich auf Augenhöhe begegnen konnte. Was viele internationale Leute immer an uns geschätzt haben, ist halt diese spezifisch Kölner Attitüde. Davon können und wollen wir uns auch nicht freimachen. Wir haben halt nie so getan, als wären wir Detroit. Wir finden Detroit klasse, wir finden auch Berlin klasse, aber wir machen eben etwas anderes. So hatte unsere Musik im Gegensatz zum bornierten England ein gutes Standing. Diese Internationalisierung hat sich dadurch zwangsläufig ergeben. Aber es ist eben ein organisches Wachstum. Auch wir haben uns in den letzten Jahren wieder gesund geschrumpft, sind aber durch die Talsohle hindurch.
Was eurer Meinung nach die Konstanten in der Labelpolitik?
Wolfgang: Diese Zweigleisigkeit, sich in einem modernen Musikmarkt weiterzuentwickeln, flexibel zu bleiben und sich nicht in einer Style-Nische zu verfangen. Andererseits aber auch traditionalistisch zu sein. Auf eine ganz einfache Weise. Wir haben unseren musikalischen Geschmack, ob man uns mag oder nicht. Dieses ständige „Label des Jahres“-Ding in vielen Magazinen war uns genauso suspekt wie dieses Totschreiben. Auf einmal müssen Kompakt dann alle wieder scheiße finden. Das hat uns aber nie berührt. Wir haben nie einen Affentanz gemacht, um nach oben zu kommen. Weil wir wissen: Wer sehr hoch kommt, kann auch sehr tief fallen. Diese extremen Ausschläge bekommen wir deswegen vielleicht auch nicht so mit.
Reinhard: Unsere Konstanten sind natürlich auch die bekannten Stammkünstler. Das sind alles Leute, die auf der Suche nach diesem ganz speziellen Impuls sind. Die auch mal Sachen machen, die vielleicht ein bisschen verrückter klingen als der normale Clubtrack. Wie Justus Köhncke zum Beispiel. Anfangs war unsere Musik vielleicht noch eine Spur mehr Minimal-Techno-orientiert, der ja hier im Haus mit erfunden worden ist. Mittlerweile sind wir etwas breiter aufgestellt. Es sind Künstler aus dem Popbereich hinzugekommen, aber auch Leute wie Gui Boratto, die imstande sind, Clubmusik noch einmal auf ein völlig neues Level zu hieven. Einfach weil seine Sachen wahnsinnig tight klingen. Uns ist es immer wichtig zu sehen, dass sich jemand etwas traut.
In diesem Jahr feiert ihr zwanzigjähriges Jubiläum. Neue Alben von Coma, The Field, Justus Köhncke und Kaito sind angekündigt oder bereits erschienen. Wie blickt ihr in die Zukunft?
Wolfgang: Auf ruhiger, gerader Bassdrum weiter geradeaus. (lacht) Grundsätzlich neige ich dazu, zu sagen, dass mich Vergangenheit und Zukunft nicht interessieren. Ich interessiere mich für die Gegenwart und die nächsten vier, fünf Wochen. Alles andere ist mir erst einmal egal. Jetzt kommen die „20 Jahre Kompakt Festspiele“, wie wir es nennen. Es kommt halt immer mehr Anerkennung aus der Kunst- und Klassischen Musikecke. Als Dienstältester interessiere ich mich für diese Sachen natürlich sehr, ich finde das toll. Zum Beispiel die Compilation Gregor Schwellenbach spielt 20 Jahre Kompakt (der Kölner Komponist hat Klassiker der Labelgeschichte mit akustischen Instrumenten kammermusikalisch neu interpretiert, Anm. d. A.). Was die Zukunft angeht, mache ich mir relativ wenig Sorgen. Ich denke, wir haben eine gesunde Bodenhaftung und es verbreitet sich langsam das Gefühl, dass man unter ein bestimmtes Level nicht mehr fallen kann.
Drei Kompakt-Klassiker:
Love Inc. – Life’s A Gas (1995)
Zwar nicht auf Kompakt, sondern damals noch auf dem Frankfurter Force Inc.-Label erschienen, gehört Life’s A Gas doch zu den Klassikern von Wolfgang Voigt. Auf dem Album samplet sich der Kölner durch die Musikgeschichte und lädt die elektronische Tanzmusik jener Tage mit reichlich Glam auf. Das epische, fünfzehnminütige Titelstück passt dagegen auch in jedes Ambient-Set.
Justus Köhncke – Timecode (2004)
Das Stück gehört zu den größten auf Kompakt veröffentlichten Clubhits und ist eine Hommage an den Discoklassiker „How Long“ von Lipps Inc. (ohne dass das Original gesamplet würde), der wiederum eine Coverversion des gleichnamigen Songs von Ace ist (eine britische Band aus den Siebzigern). Mit dem originalen Original hat Köhnckes Hommage allerdings nur noch wenig zu tun.
Diverse – Schaffelfieber (2000)
Nach Glam und vor Schlager brachte Kompakt zur Jahrtausendwende auch den Shuffle in den Techno. Die Compilation Schaffelfieber enthält neben diversen Wolfgang Voigt-Tracks (unter jeweils verschiedenen Pseudonymen) auch Tracks von Sensorama, T.Raumschmiere, Sascha Funke und Superpitcher, der den Schaffelbeat auch in seinen späteren Produktionen zum Markenzeichen werden ließ.