Text: Florian Obkircher
Erstmals erschienen in Groove 135 (März/April 2012)
Claire Boucher alias Grimes nennt ihre Musik „Post-Internet“. Warum, das wird beim Hören ihrer neuen Platte Visions schnell klar. Das Tor des Referenzkäfigs der Kanadierin steht sperrangelweit offen. Von Italo-Pop sowie IDM über Charts-R&B und Ambient bis hin zu Trance-Synthesizer mitsamt ein wenig Krautrock-Geblubber – in dem stilistischen Labyrinth von Grimes gibt es weder Scheuklappen noch Widersprüche. Den roten Faden bildet der verhuscht ätherische Gesang der 23-jährigen Musikerin, der an Elisabeth Fraser von der Band Cocteau Twins erinnert. Doch auch ohne Gesang wäre Visions kein bunter Quilt, sondern ein schlüssiges Ganzes. Weil das Experimentieren mit verschiedenen Stilen eben kein Experimentieren ist, sondern für Grimes das Normalste der Welt. Post-Internet eben.
„Ich bin mit Napster aufgewachsen, habe nie Alben, sondern immer nur einzelne Tracks angehört“, sagt Boucher. „Für meinen Vater war David Bowie der Held seiner Jugend. Weil dessen Platten die einzig coolen waren, die er besessen hat. Ich dagegen bin mit unendlich viel verschiedener Musik aufgewachsen, bevor ich zum ersten Mal einen Plattenladen betreten habe.“ Auch an die Rahmenstrukturen der Musikindustrie hält sich Boucher nur bedingt. Der Zwei-Jahres-Platten-Zyklus hat ausgedient. 2010 hat sie gleich zwei Alben auf dem kleinen DIY-Label Arbutus veröffentlicht, 2011 eine weitere Split-EP mit ihrem kanadischen Kollegen D’eon. Visions ist nun ihr erster Tonträger, der auf dem britischen Mittelschwergewichtslabel 4AD erscheint. „Es ist toll, unabhängig zu sein und seine Songs einfach online zu stellen. Auf der anderen Seite ticken Labels aber eben ein wenig anders“, sagt sie. „Es ist ein zweischneidiges Schwert: Als ich mein erstes Album Geidi Primes veröffentlicht habe, dauerte es sechs Monate, bis ich meine erste Rezension bekam. Musik selbst zu veröffentlichen ist zwar leicht, aber es ist unglaublich schwierig, Aufmerksamkeit zu bekommen.“
Die Stücke zu Visions hat Grimes im vergangenen Sommer geschrieben und aufgenommen. Für die Künstlerin scheint das eine halbe Ewigkeit her zu sein. Weil sie rastlos ist, und das Musikmachen für sie ein intuitiver Prozess sei, sagt Grimes. Nach dem Motto: Der erste Take ist meistens der beste. Deshalb fällt es ihr schwer, im Studio zu arbeiten. So ist Visions wie die beiden Vorgänger-Platten im Heimstudio entstanden – bei vorgezogenen Vorhängen. „Ich muss mich isolieren, um Songs zu schreiben. Ich kann keine Kinder draußen spielen hören oder mit einem Tontechniker arbeiten, der mich schimpft, wenn ich etwas falsch mache.“ Diesen unmittelbaren Zugang, dieses DIY-Ethos legt Grimes auch auf andere Bereiche um. Derzeit arbeitet sie an einem Video-Zyklus für alle 13 Songs auf Visions. „Ich liebe es, Musikvideos zu machen“, sagt sie. „Musik ist mein Job, Videos bringen mir neue Freiheiten. Als Grimes könnte ich keine Noise-Platte machen. Bei Videos bist du freier, es ist eine neue und spannende Kunstform. Wenn Musizieren der Hauptgang ist, dann ist das Videomachen mein Dessert.“
Grimes tritt am 25. Mai in Berlin (Berghain, ausverkauft) und am 26. Mai in Hamburg (Uebel & Gefährlich) auf. Im September ist sie auch auf dem Berlin Festival zu sehen.
Video: Grimes feat. Majical Cloudz – Nightmusic