Foto (oben): Marco Microbi
Radiosignale wurden hinauf in die Ionosphäre gesendet und als Reflexionen wieder aufgefangen, an Ballons befestigte Bluetooth-Lautsprecher kamen zum Einsatz, doch die beeindruckendste Demonstration der körperlichen und psychoakustischen Wirkung von Schallwellen, dem diesjährigen Thema des CTM Festivals in Berlin, gelang mit vergleichbar einfachen Mitteln. Kevin Martin alias The Bug hatte zur Premiere seiner „Sirens“-Performance ins Berghain geladen und dazu ein eigenes Reggae-Soundsystem mit zahlreichen 18-Zoll-Bassrutschen mitgebracht, das der normalerweise schon beeindruckenden Funktion-One-Anlage des Clubs vorgeschaltet wurde. Dem Vernehmen nach kostete es den als Verstärkerquäler gefürchteten Briten einiges an Überredungskunst, die Clubbetreiber davon zu überzeugen, dass er mit der geballten Wattstärke der kombinierten Lautsprechertürme niemandem körperliche Schäden zufügen wollte. Ganz schienen die Verantwortlichem dem Braten jedoch nicht zu trauen: So hingen an den Wänden Plakate mit Warnhinweisen und dem Vorschlag, sich an der Bar kostenlosen Ohrschutz zu besorgen.
Hätte der Dub- und Noise-Experte eine normale Bug-Show gespielt, dann wären vielleicht auch blutende Nasen und Gehörstürze zu befürchten gewesen. Doch er brachte eine verlängerte Version des Tracks „Siren“ (von der Hyperdub-Compilation 10.3) zur Aufführung, ein knapp 30-minütiges Stück, das vor allem aus Drones, Flächen und Rauschen bestand. Diese Zutaten schichtete Martin zu einem langsam anschwellenden Crescendo auf, bis ein dichter und erstaunlich weicher Wald aus Frequenzen die Zuhörer umschloss. Etwa zur Mitte des Stückes tauchte dann doch ein Beat auf: Ein Dancehall-Rhythmus, der nach und nach wieder im weiten Raum von Martins Klanglandschaft verschwand, bis er nur noch als Geister-Rhythmus wahrnehmbar war. Musikalische Innovation? Fehlanzeige. Doch darum ging es Martin bei „Sirens“ auch gar nicht. Er wollte seine Klangwelt dem Publikum unter dem Vorzeichen der Entschleunigung auch körperlich erfahrbar machen. Eine „Körper- und Gehirnspülung“ mit kathartischer Wirkung hatte Martin zuvor versprochen: Es ist ihm gelungen.
Nicht jeder Künstler erreichte solche Effekte alleine mit dem Einsatz von Lautsprechertürmen und einer Nebelmaschine. Das CTM Festival ist auch eine Leistungsschau für die audiovisuelle Avantgarde, bei der die Teilnehmer mit technologischen Experimenten beeindrucken wollen. Das britische Duo Emptyset etwa stellte bei seinem Auftritt auf die weitgehend dunkle Bühne des HAU-Theatersaals zwei Bildschirme, auf denen jeweils eine Sinuskurve zu sehen war. Auf dem linken Schirm stand über der Wellenform der Name der Stadt Nauen in Brandenburg, auf dem rechten war der Name des französischen Ortes Issoudun zu lesen. Im Programmheft wurde der Sinn des Aufbaus erklärt: Eine Radiostation in Nauen sendete Signale in den Himmel, die von der Ionosphäre reflektiert wurden, um in Issoudun wieder eingefangen zu werden. Paul Purgas und James Ginzburg wiederum wollten diese Signale live in ihre Performance einbauen. Doch ob das Experiment tatsächlich funktionierte, erschloss sich dem Publikum nicht. Denn ob das Rauschen in den Emptyset-Drones aus der Atmosphäre oder einer anderen Klangquelle stammte, ließ sich nicht nachvollziehen. Und auch warum die Amplituden auf den Funkstations-Bildschirmen sich trotz der gewaltigen Entfernungen simultan und ohne sichtbare Zeitverzögerung bewegten, wurde nicht erklärt. So funktionierte die Performance wie eine Black Box: Ob nun tatsächlich Radiosignale aus der Ionosphäre live moduliert wurden oder ob alles vom Band kam, war nicht herauszufinden.
Andere technische Spielereien dagegen erschlossen sich auf Anhieb. So erreichte der argentinische Musiker Lucio Capece mit an Ballons befestigten Bluetooth-Funk-Lautsprechern interessante Raumklangeffekte. Schade nur, dass sein Live-Set mit dem Titel „RX-11 Space Drum Machine“ musikalisch wenig überzeugend war. Der Raster-Noton-Künstler Frank Bretschneider wiederum hatte sich mit dem Videokünstler Pierce Warnecke zusammengetan und eine Maschine mit rotierenden Zylindern in Auftrag gegeben, die durch die Signale von Bretschneiders Musiksoftware gesteuert wurde. An den transparenten Zylindern befestigte Warnecke verschiedene Bögen mit ausgestanzten Mustern, die er mit einer Lampe anstrahlte und abfilmte. In Kombination mit Bretschneiders Musik entstand so eine formal strenge, aber sehr überzeugende Aufführung im Haus der Kulturen der Welt.
Am letzten Abend zeigte ein weiterer Auftritt auf, dass Musik gar keine weiteren Medien und Technologien benötigt, um synästhetische Wirkungen zu entfalten. Das weibliche japanische Postrock-Trio Nisennenmondai spielte Techno mit den Mitteln einer Band: Die Stücke bestanden nur aus extrem präzisem Schlagzeugspiel, druckvollen Bass-Rhythmen und eingestreuten Gitarren-Effekten – minimalistisch und dennoch extrem funky. Ein Set, das in seiner strukturellen Klarheit wie das musikalische Äquivalent zu einem Zen-Garten wirkte.