Text: Stefan Goldmann
Erstmals erschienen in Groove 152 (Januar/Februar 2015)
Wer im vergangenen Jahr der Idee nachging, aus der Not kleiner Vinylauflagen eine Tugend zu machen – also in den nicht aussterben wollenden, knapp unter Nachfrage limitierten Editionen zu pressen, sollte Bekanntschaft mit einer Verknappung ganz anderer Art machen: einem sich gegen unendlich ausdehnenden Vorlauf zwischen Auftragsannahme und Auslieferung. Während in den Durstjahren von Vinyl die Herstellungsstätten ihre Anlagen nur mit Mühe und Not in Betrieb hielten, hat die hinsichtlich der desolaten digitalen Formate einsetzende Ernüchterung der Schallplatte einen Nimbus verschafft, dem nicht mehr nur die Anhänger von Subkulturen huldigen, sondern praktisch alle, die irgendwie Musik veröffentlichen. Die Gesamtmenge an hergestelltem Vinyl hat sich seit 2007 vervierfacht und schickt sich gerade an, den Stand von 1996 wieder zu erreichen. Dass zuletzt Jack White auf die führende Auflage unter den Neuveröffentlichungen kam, muss nicht überraschen – dass bereits die Nummer zwei der Vinyl-Top-Ten schon nicht mehr in diesem Jahr veröffentlicht wurde, hingegen schon. Vorne dabei sind Wiederveröffentlichungen von Titeln, von denen man meinen müsste, dass sie doch eigentlich jeder, der sie will, auch schon besitzt.
„Die Gesamtmenge an hergestelltem Vinyl hat sich seit 2007 vervierfacht und schickt sich gerade an, den Stand von 1996 wieder zu erreichen.“
Es sind vor allem die Majors mit ihren tiefen Katalogen, die den wenigen verbliebenen Presswerken Sonderschichten verschaffen (also zum Teil genau jenen, die sie vor wenigen Jahrzehnten abgewickelt hatten). Hinzu kommt, dass eine still durch den Kalender gleitende Frist die Betriebsamkeit auf zwei Seiten anheizt: Das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen erlischt nach fünfzig Jahren. Die größten Dauerbrenner der Plattengeschichte werden dadurch demnächst gemeinfrei. Die letzten Augenblicke Exklusivität werden deshalb mit reichlich ausgestatteten Sonderausgaben ausgeschöpft. Auf der anderen Seite springen spezialisierte Zweitverwerter in die Bresche und pressen nun die Perlen der sechziger Jahre mit gescannten Covern nach.
Balance-Akt zwischen Großkunden und Kleinstauflagen
Das Techno-Idyll zwischen diesen Großkunden dürfte eigentlich überhaupt nicht mehr stattfinden. Schließlich lässt sich an Kleinstauflagen nicht besonders viel verdienen. Die ständigen Unterbrechungen der Produktion, nur um die nächste Limited Edition einzurichten, verzögern die Abläufe – hinzu kommen Verwaltung, Inkasso, Rückfragen nach dem Verbleib der Sendung, Reklamationen. Eigentlich könnte man den ganzen Tag lang Pink Floyd pressen und damit wirtschaftlich glücklich werden. Angeblich wollen die Majors, nach den erfolgreichen Probeläufen der vergangenen Jahre, noch viel stärker ins Reissue-Geschäft gehen. Da immer noch hunderte Kleinstlabels in den Markt drängen, haben die Presswerke entsprechend den Schlussstrich nach unten bei 300 Einheiten gezogen. Die meisten Produktionsanfragen von Kleinstlabels (und dazu zählt mittlerweile wohl praktisch das meiste, was sich Techno nennt), die etwa beim Berliner Vermittler Handle With Care eingehen, interessieren sich für 100 bis 200 Stück. Die sind allerdings so teuer, dass man besser gleich 300 macht. Allerdings: Unter 500 rentiert es sich so oder so praktisch nie. Wie viel davon im Schnitt tatsächlich verkauft wird, weiß niemand. Nur 112 Veröffentlichungen haben dieses Jahr bereits mehr als 1000 Einheiten abgesetzt, meldet die Statistik. Es kursieren Gerüchte von einem nicht unbekannten Label, bei dem bei 170 Einheiten schon mal der Veuve Clicqout geöffnet worden sein soll (vor zehn Jahren wäre es wohl Dom Perignon gewesen – bei 8000 Einheiten). Wenn die gesamte DJ-Repräsentanz des Ladens mit USB-Sticks auftritt, ist es eben fraglich, wer eigentlich die Zielgruppe des schwarzen Goldes dieser Marke sein soll – trotz voller Hallen von Ibiza bis Tokio.
„Wird der Glanz eines industriell hergestellten Produkts als Zeichen für Relevanz gebraucht?“
Aber was die eigentlichen Spezialisten des Mediums – kleine Vinyl-only-Labels – veranlasst, immer wieder Geld zu verbrennen, bleibt rätselhaft. Wird der Glanz eines industriell hergestellten Produkts als Zeichen für Relevanz gebraucht? Bis heute konnte sich praktisch kein einziges reines Digitallabel einen Namen auf Augenhöhe mit den Auch-Vinyl-Labels machen. Umgekehrt müsste man vermuten, dass Produzenten von Unikaten unter Galerieverdacht stehen, denn konsequent Einzelstücke für einen noch kleineren Zirkel von Eingeweihten zu produzieren wird im Clubkontext kaum erwogen. Die Technik dazu ist schließlich verfügbar: Für den Preis der Herstellung von zwei bis drei regulären 12-Inch-EPs gäbe es etwa den Vinyl-Recorder für zu Hause von Souri’s Automaten. Clubrelevanz verlangt anscheinend nach wie vor nach dem symbolschweren Vinyl. Die Zahl der Willigen, diesen speziellen Opferritus jahrelang gegen die eigenen Finanzinteressen auszufechten, muss in die Tausende gehen. Soziale Distinktion am unteren Rand gegen das digitale Lumpenproletariat.
Video: Souri’s Automaten – Vinylrecorder T-560
Die ganz großen Namen der elektronischen Musik starten übrigens immer noch mit mehreren Tausend Stück Erstauflage. Manche mehr. Ob Großkunden beim Presswerk bevorzugt behandelt werden, ist aber fraglich. Aphex Twin etwa musste, nach über einer Dekade Auszeit mit einem neuen Album in den Startlöchern, ebenfalls zähneknirschend ein paar Monate hinzuaddieren. Das Vinyl ließ warten (die Maschine schafft 100 Stück pro Stunde). Die kleinen Labels versacken dennoch nicht auf endlosen Lückenfüller-Wartelisten, denn sollte der große Trend erst abflauen, werden nur die Freaks die Maschine weiter am Laufen halten. Die Basiskundschaft wird deshalb weiter gehegt, auch wenn sie durch Verlangsamung gezwungen wird, ihre Planung neu auszurichten. Vinyl wirkt dadurch doppelt als große Entschleunigung: Die Wartezeiten machen jeglicher Tagesaktualität einen Strich durch die Rechnung; die fragilen Absatzzahlen drücken alles, was nicht strahlend heraussticht, sofort in die Schmerzzonen des Verlusts.