Hardtechno erlebte in jüngerer Zeit ein erstaunliches Revival. Einer der maßgeblichen Charaktere dieser Szene ist der DJ und Produzent Tobias Lüke alias O.B.I., der bereits seit Anfang der Zweitausender zu den aktivsten Protagonisten dieses Genres in Deutschland zählt – das veranlasste uns dazu, dem Musiker endlich eine Studio-Visite abzustatten.
Um den DJ O.B.I. in seinem Schaffensraum zu treffen, gilt es, den Weg ins ländliche Greven anzutreten – eine kleine Ortschaft nördlich von Münster, wo der DJ und Producer im Keller eines beschaulichen Reihenhauses seine beeindruckende Operationszentrale installiert hat.
Angesprochen auf die wechselvolle Popularität des polarisierenden Genres Hardtechno und gefragt, wann und wo er die Anfänge seiner Karriere verortet, antwortet er: „Meinen ersten offiziellen Clubgig hatte ich am 15. Februar 2001, im Fusion Club in Münster bei der Veranstaltung ‚Newborn DJs’. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade 18, und ich kann mich noch genau daran erinnern. Es war eigentlich ein Zufall, dass ich dort gespielt habe. Ich hatte mich nicht mal gezielt beworben. Ich stand im Plattenladen in Münster, ‚Dundrum’ hieß der, und der Verkäufer meinte: ,Hey, wir haben hier diesen DJ-Contest, willst du da nicht mitmachen?’ Und ich so: ‚Klar, trag’ mich ein!’ Nach meinem Set bei der ‚Newborn DJs’ bekam ich einen Resident-Job im Fusion Club.”
Immer etwas härter
Auf die Frage, wie es überhaupt zu seinem persönlichen Erstkontakt mit dem Genre im doch eher beschaulichen Münsterland kam, berichtet Tobias: „Ich habe mich schon immer eher zu den härteren und schnelleren Genres der elektronischen Musik hingezogen gefühlt. Angefangen hat es in den Neunziger Jahren mit Rave und Early Hardcore. Münster hatte schon immer eine starke Szene. Es gab den Fusion Club, das Depot und den Cosmic Club, und es war eigentlich jedes Wochenende was los. Um 2000 rum haben mich dann Acts wie Chris Liebing, DJ Rush und Jörg Henze mit ihrem Sound sehr inspiriert und mich musikalisch geprägt.
Das Epizentrum der Szene sei dabei immer der Kulturstandort Am Hawerkamp 31 gewesen, wo sich auf dem Gelände eines ehemaligen Betonwerks in Selbstverwaltung ein extrem buntes Konglomerat aus Clubs, Werkstätten und Ateliers etabliert hat.
O.B.I. erinnert sich begeistert an die Anfänge: „Der Hawerkamp war schon damals bundesweit bekannt und hatte bei Nacht ein ganz besonderes Flair. In meiner Zeit als Resident im Fusion Club durfte ich vor und nach vielen bekannten DJs spielen, konnte viele tolle Erfahrungen sammeln und viel dazulernen. Münster und das Publikum hier mochten es schon immer etwas härter. Viele DJs haben deshalb einen Gang zugelegt und ein bisschen zügiger gespielt. Die Crowd war einfach wilder als in anderen Clubs und Städten, wie in Düsseldorf im Poison oder im Tribehouse in Neuss, wo alles etwas grooviger und verspielter war. Die Veranstaltungsreihe ,Tanz der Teufel’ hat mich und viele Leute in dieser Zeit ganz besonders geprägt. Wir hatten Acts wie Adam Beyer, Cristian Varela, Marco Carola und, wie schon erwähnt, Chris Liebing und DJ Rush, die zu dieser Zeit alle härteren Techno gespielt haben. Heute haben wir auf dem Hawerkamp fünf oder sechs Clubs, und ich veranstalte regelmäßig meine Eventreihe ,Wir sind die Nacht’ im Fusion Club.”
In dieser Zeit machte der heute Vierzigjährige auch seine ersten Versuche im Bereich Musikproduktion. Einstiegsdroge war – wie bei so vielen – das Programm Rebirth von Propellerheads, das am PC erstaunlich realistisch zwei 303s und eine 909 emuliert habe. „Es gab damals noch keine Tutorials oder YouTube-Videos. Man hat halt rumprobiert und experimentiert, bis man irgendwann verstanden hat: Ah, dieser Button macht dies und der das”, berichtet Tobias.
Resilienz und innere Stärke
Gefragt, ob die ersten Gehversuche im Bereich Techno im elterlichen Haushalt für Begeisterung gesorgt haben, berichtet der Produzent ernst, dass er keine leichte Kindheit hatte und schon sehr früh von zu Hause ausgezogen sei: „Es war damals alles nicht so einfach. Meine alleinerziehende Mutter und ich sind oft aneinandergeraten, und am Ende war die einzig logische Lösung eine räumliche Trennung”, sagt er.
Man muss an dieser Stelle nicht großartig ins Psychologisieren verfallen, darf diese einschneidende Inzidenz aber durchaus als Schlüssel zur Persönlichkeit von Tobias Lüke sehen, was sich auch im Gespräch zeigt. O.B.I. – den Namen hätten seine Freunde irgendwann mal aus Tobias abgeleitet, und später kamen noch die Punkte dazu – ist ein durch und durch resilienter, unternehmungslustiger Charakter, der Dinge gerne vorantreibt, weitermacht und sich auch durch Rückschläge nicht desillusionieren lässt: „Ich habe auch in den härtesten Zeiten, als sich niemand mehr für Hardtechno, Industrial Techno, Schranz – wie auch immer du es nennen möchtest – interessierte, nicht aufgegeben und weitergemacht. Mit meiner Marke ‚Definition of Hardtechno’ habe ich angefangen, Events in verschiedenen Clubs in ganz Deutschland zu veranstalten, um die Szene am Leben zu erhalten und wieder aufzubauen.”
Ich frage O.B.I. an dieser Stelle, welchen Bezug er zum eskapistischen Element des Techno habe und wie die gelebte Wirklichkeit des Musikers über viele Jahre in der Partyszene aussehe: „Das Leben und die Arbeit als Musiker sind ein Teil von mir und in keiner Weise ein Entfliehen. Ich bin dankbar, dass ich meine Leidenschaft zum Beruf machen konnte und nun schon so lange als Künstler tätig bin. Am Ende ist es eine Arbeit, und jeder Selbständige versucht, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Natürlich freue ich mich auf meine Gigs und darauf, diese Passion zu leben, aber genauso freue mich danach auf mein Zuhause und meine Familie.”
Auch der Corona-Flaute konnte der Produzent die nötige Resilienz entgegensetzen, um aus der Krise gestärkt hervorzugehen. Anstatt den Kopf den Sand zu stecken, nutzte er die Zeit, um Projekte zu realisieren, die schon lange in ihm schlummerten: „Der TLM-Webshop mit eigenen Sample-Packs, die Kurse für das Sinee-Institut und die Eurorack-Module. Das alles entstand während der Corona-Krise. Ich glaube, ich habe noch nie so viel gearbeitet wie in dieser Zeit.”
Vinyl- und Mixtape-Promotion
Als das Gespräch wieder auf die Anfänge seiner Karriere kommt, interessiere ich mich dafür, wie es zu den ersten Veröffentlichungen und zur Gründung von O.B.I.s Label Tekktribe kam. Lüke erzählt, dass er nie eine Demo verschickt habe, sondern direkt die ersten vier Tracks, mit denen er zufrieden war, auf Platte gepresst hat: „Ich habe einfach 300 Vinyls pressen lassen, von denen ich einen Teil als Promo an DJs verschenkt und an Läden wie Decks oder Webrecords geschickt habe. Am Abend kam ich nach Hause – damals war ich noch in der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann – und hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: ‚Hallo Tobias, wir haben schon 38 Vorbestellungen, wir brauchen noch mehr von deinen Platten.’ Später musste ich zweimal nachpressen lassen, weil die Platte sechs Wochen lang auf Platz eins im Webrecords-Shop war. 2003 brachte ich die Tekktribe 003 raus, und als DJ Rush sie bei der Loveparade an der Siegessäule in seinem Set gespielt hat, bin ich bei der Liveübertragung vor dem Fernseher fast ausgeflippt, erinnert sich O.B.I. strahlend.
„Damals wurde man wegen seiner Musik und nicht wegen seiner Social-Media-Kampagnen gebucht. Auch bei mir geht heute ein Großteil meiner Arbeit in die Promotion und die Präsenz in den sozialen Medien”
O.B.I.
Inzwischen blickt er auf einen dynamischen Musikmarkt und resümiert, dass man heutzutage ganz anders agieren müsste als noch vor zwanzig Jahren. Gefragt, ob und – wenn ja – wie sich die heutzutage extrem ausgefeilten Analyse- und Statistik-Tools der Online-Distributoren auf seine Veröffentlichungen auswirken, berichtet Lüke: „Natürlich helfen diese ganzen Analyse-Tools, aber immer wieder stellt sich – bei allen ausgefeilten Statistiken und zielgerichteter Promotion – bei manchen Releases heraus, dass die Nummer, von der man es nicht erwartet, die man irgendwie noch auf die EP gepackt hat, genau der Track ist, der am meisten gespielt wird.”
„Mit der Zeit hat sich einiges geändert. Früher haben wir Platten gepresst und Mixtapes verteilt, um auf uns aufmerksam zu machen. Da gab es noch keine Social-Media-Welt oder große Internet-Plattformen – es gab ein 56k-Modem mit Einwählsound. (lacht) Dafür hatte man halt was in der Hand. Als dann die MP3-Zeit kam und der Vinylmarkt zusammenbrach, waren es für mich und viele andere Künstler wirklich schwere Zeiten, in denen man für seine Kunst kaum Geld bekam und es gemacht hat, um am Ball zu bleiben.”
Heute habe sich dagegen der Fokus der künstlerischen Arbeit stark in Richtung Marketing verschoben: „Damals wurde man wegen seiner Musik und nicht wegen seiner Social-Media-Kampagnen gebucht. Auch bei mir geht heute ein Großteil meiner Arbeit in die Promotion und die Präsenz in den sozialen Medien”, so Lüke.
Eurorack-Module
Als ob seine Arbeit als DJ, Producer und Tutor (und in jüngerer Zeit auch Familienvater) noch nicht reichen würde, hat der Selfmade-Unternehmer angefangen, die legendären Eurorack-Module von Mutable Instruments, deren Produktion im Jahr 2022 eingestellt wurde, in einer eigenen nachtschwarzen Edition wieder aufleben zu lassen. „Da ich selber ein Riesenfan der Firma Mutable bin, haben mein Partner und ich uns dazu entschlossen, diese Open-Source-Schaltungen nachzubauen und die Module mit einem neuen Design in Form von schwarzen Frontplatten und einem fairen Preis anzubieten. Außerdem stehe ich auf schwarze Frontplatten”, ergänzt er beim Blick auf sein imposantes Modularsystem lachend.
Tatsächlich geht das Innovationsinteresse so weit, dass Lüke zusammen mit seinem Entwickler dem Pattern-Generation-Modul „Grids” eine komplette Runderneuerung mit einem Performance-orientierten Layout und einem neuen Pattern-Arsenal spendiert hat, das sich stilistisch mehr am Dancefloor orientiert als das Original. Schön ist dabei auch, dass er es auf den naheliegenden Namen „Trigs” – für Trigger – getauft hat.
„Über die Jahre ist es wirklich egal geworden, welche DAW man nutzt – alle bringen die nötigen Tools mit, um zum Ergebnis zu kommen, auch wenn der Weg dahin hier und da etwas unterschiedlich ist.”
O.B.I.
Zudem bringt Lüke die Produkte der Firma ST Modular vom Modularsystem-Entwickler Stefan Tretau ebenfalls als fertig gebaute Module auf den europäischen Markt. „ST Modular macht so viele tolle Sachen, doch leider sind die Module nur als Bausätze verfügbar.” Nach einigen Gesprächen mit Tretau einigten sich die beiden auf einen Lizenzvertrag, der es Lüke und seiner Firma TLM ermöglicht, die ST-Modular-Serie herzustellen und zu vertreiben.
Vocals
O.B.I. macht gerne mit Freunden gemeinsame Sache. So gibt er zu Protokoll, dass die erste Nummer, in der Vocals mit längeren Lyrics eine zentrale Rolle spielten, in der Corona-Zeit entstand, als er mit HardtraX – einem langjährigen Freund und Kollegen – Musik gemacht hat. Inspiriert durch die Texte von Dunkelkammer, der laut O.B.I. „schon eine ganze Weile lang Gedichte und Lyrik verfasst”, ist daraus schließlich mit „Die neue Ordnung”, die erste Nummer entstanden, in der Vocals eine zentrale Rolle spielen.
Kurz darauf folgte der Song „Gib mir alles” der ebenfalls durch eine Kollaboration mit anderen Künstlern entstand. In diesem Fall handelt es sich um RWGK [Rüdiger Kränzlein, Anm. d.Red.] und Timo Revna, die beide an einem neuen Song arbeiteten. Inspiriert von den Ansätzen und den Vocals von Timo Revna, kam O.B.I. die Idee für das Fundament und das Arrangement. „Lass’ uns da ein richtig dickes Ding draus machen, die Vocals fordern doch förmlich einen harten Beat ein”, sagt Lüke begeistert und klatscht dabei energisch in die Hände.
Modularwand und DAW
Im weiteren Gespräch erweist sich der Produzent als sachkundiger Experte im Bereich der Musikproduktion, der nahtlos zwischen digitaler Produktionsweise in der DAW und analogem Schrauben an seiner gigantischen Modularwand zu wechseln vermag.
Im Rechner kommen Ableton und FL Studio als DAW zum Einsatz. „Über die Jahre ist es ja wirklich egal geworden, welche DAW man nutzt – alle bringen die nötigen Tools mit, um zum Ergebnis zu kommen, auch wenn der Weg dahin hier und da etwas unterschiedlich ist”, sagt Lüke.
Während des Produzierens greift O.B.I. auf Plugins von diversen Herstellern zurück. Sein Lieblings-Limiter, der Fabfilter Pro-L, kommt in jedem Projekt zum Einsatz. Neben Tools der Marken iZotope, Soundtoys oder Arturia nutzt er aber auch einige unspektakuläre VSTs wie den Standard-Kompressor von FL Studio, den er wegen seiner speziellen Eigenschaften lieben gelernt hat: „Es gibt keinen Kompressor, der für mich besser arbeitet, einfach weil ich ihn kenne und er einen super Job macht”, befindet er.
Gleichzeitig komme es regelmäßig vor, dass Lüke den halben Tag nur Percussion-Grooves oder Bassdrums am Modularsystem baue. Oft nimmt er sich dabei nur ein einzelnes Modul heraus und erforscht dessen klangliche Möglichkeiten. So hat sich Lüke ein riesiges Arsenal an perkussiven Sounds allein mit dem Basimilus-Modul von Noise Engineering zusammengestellt, auf die er immer wieder zurückgreift. Die Sounds haben natürlich auch Einzug in seine Sample-Collections gefunden, die er selbstverständlich auch selbst nutzt: „Erst neulich hab’ ich wieder eines der Top-Loops aus unseren Packs in einem meiner Tracks verwendet, um dem Beat obenrum noch ein bisschen Fülle und Groove zu verleihen”, verrät Lüke.
Dabei geht er ansonsten relativ sparsam in seinen Arrangements vor. „Das hört sich oft so voll an, aber es sind am Ende meistens nur wenige Kanäle – ich komme oft mit acht Spuren für das Beat-Konstrukt aus. Das gilt auch für das Processing – ich brauche keine kilometerlangen Plug-in-Ketten. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Sounds in Sample-Kits bereits prozessiert sind.”
Auf die Frage, wie lange er im Schnitt an einem Track sitzt, sagt O.B.I.: „Wenn ich eine klare Idee habe und im Flow bin, entsteht ein Song auch mal in einer einzigen Session. Und dann gibt es natürlich die Nummern, wo man ins Stocken gerät und ins Hinterfragen von Sounds und Entscheidungen kommt – Solche Projekte werden oft einfach gar nicht fertig und bleiben als Projektdateien auf der Festplatte liegen. Aber damit hat, glaube ich, jeder Produzent zu kämpfen: Dass es mal wie von Geisterhand läuft und ein anderes Mal so gar nicht funktionieren will”, sagt O.B.I. lachend.