Tom Lea, Betreiber des Labels Local Action (Foto: Presse)
Mit seiner einzigartigen stilistischen Diversität ist das Label Local Action wohl so nur in London vorstellbar. Knapp 70 Maxis und 20 Alben der Genres Grime, Rap, Nu Disco, Footwork, Ambient, House, Garage, UK Funky, UK Bass und Balearic sind dort in den letzten zehn Jahren erschienen. Unser Autor Mirko Hecktor hat Local-Action-Macher Tom Lea in London angerufen, um zu erfahren, wie er das Label, das immer zu überraschen weiß, auf die Beine gestellt hat.
„Für Local Action war das Geschäftsjahr 2020 erstaunlich gut, ich denke, das lag am stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt und der damit verbundenen größeren Unterstützung der Käufer*innen, die die Covid-19-Pandemie auslöste. Der Wegfall der Live-Auftritte war für die Künstler*innen wesentlich schlimmer als für Musiklabels.”
So startet das entspannte, kurzweilige Telefonat, das ich mit dem smarten, nachdenklichen Local-Action-Labelbetreiber Tom Lea führe. An einem heißen Sommerabend unterhalten wir uns zwischen istrischen Zypressen und seinem Südlondoner Büro in Deptford über sein Label, über Abläufe in der Musikproduktion und über die Veränderungen in der Musikindustrie in den letzten zehn Jahren im Zuge der Digitalisierung.
Der Warm-Up-Small-Talk vor dem eigentlichen Interview streift kurz ein weiteres Thema, das England und die EU bewegt. Im Fokus stehen der Brexit und explizit die Schwierigkeiten englischer Plattenproduzent*innen, in die EU zu exportieren. Zwar werden Vinyl-Käufe aus dem Vereinigten Königreich in die EU wegen des Freihandelsabkommen nicht direkt besteuert, dennoch kommt es dazu, „dass einige Bandcamp-Käufer*innen wegen zollrechtlicher Anmeldungen bis zu 20 Euro extra für ihre Platten zahlen müssen.”
Label-Betreiber: Tom Lea
Gründung: 2010 in London
Stil: High energy, high emotion electronic music
Künstler: T.Williams, DJ Q, Slackk, Artifact, Finn, Jammz, Deadboy, DAWN, Yamaneko, Dread D, Big Dope P, India Jordan, Sim Hutchins, Dawn Richard, Lena Raine, Baltra
Hits: DAWN – Redemption, Finn – Sometimes The Going Gets A Little Tough, India Jordan – For You, DJ Q – Brandy & Coke, Lena Raine – Oneknowing, T. Williams – Heartbeat
Label-Motto: „Nö!”, also kein Motto.
Tom Lea ist ein gut vernetzter, geschäftstüchtiger und auf präzise Kommunikation bedachter Mittdreißiger. Seine Karriere als Chef von Local Action im Jahr 2010 begann eher zufällig. „Das Büro, in dem ich mit 22 arbeitete, befand sich hinter Phonica Records, und wir hatten einen gemeinsamen Eingang, sodass ich oft in dem Laden war und alle kannte.”
Der Plattenladen in der Poland Street in Soho steht seit 2003 für die House-, Techno- und Disco-Szene und legte die Grundsteine für Musiker*innen-Karrieren im nahen Umfeld des Ladens, etwa die von Will Saul, Palms Trax, Anthea oder Hector. Hinter dem Plattenladen liegen die Büroräume des einflussreichen Fact Magazine, für das Lea damals als Review Editor und Senior Staff Writer arbeitete.
Rein wirtschaftlich gesehen lief die Gründung des Labels eher entspannt ab. Denn Phonica finanzierte die ersten Local-Action-Veröffentlichungen: „Die Leute bei Phonica wussten, dass ich einiges über die damals entstehende UK-Funky- und UK-Bass-Szene wusste. Sie wollten ein neues Label gründen, das sich auf diese neue Underground-Szene konzentrierte. Sie fragten mich, ob ich dafür A&R [Artist & Repertoire: Management und Kuration der Künstler*innen und des Katalogs eines Plattenlabels, d.Red.] machen wollte. Über einen Freund hatte ich unveröffentlichte Musik von T. Williams bekommen. Ich dachte, das wäre toll als erste Platte. Dann haben wir innerhalb der ersten zwei Jahre drei 12-Inch-Scheiben von ihm veröffentlicht. T. Williams hatte eigentlich keine wirklichen Pläne für die Musik und wollte sie eher digital herausbringen.”
Schnell bekommt man das Gefühl, dass Lea eine*r der einflussreichsten und lässigsten Strippenzieher*innen ist, die Londons Underground-Musikszene in den letzten zehn Jahren zu bieten hat.
T. Williams alias DJ Dread D war in der ersten Hälfte der 2000er in der Ostlondoner Grime-Szene als Teil des DJ-Kollektivs und Labels Black Ops und durch das Londoner Pirate-Radio-Phänomen bereits ein wichtige Szenefigur. Gegen Ende des Jahrzehnts gelang ihm Protagonist der aufstrebenden UK-Funky-Szene der Durchbruch zu einer internationalen Karriere.
2011 übernimmt Lea Local Action komplett und führt das Label seither in Eigenregie. In einem früheren Interview erklärte Tom, dass erst vor fünf Jahren mit der Veröffentlichung der US-amerikanischen Musikerin DAWN (Dawn Richards aus New Orleans) eine stärkere Professionalisierung der Labelarbeit einsetzte.
Als ich frage, was diese Professionalisierung bedeutete, antwortet er bescheiden: „So ziemlich alles! Der Produktionsprozess davor war wirklich chaotisch. Wenig Abläufe waren geregelt. Ich hatte keine Ahnung davon, wie man eine Platte schneidet oder wie der Vertrieb funktioniert. Und dann veröffentlichst du eine internationale Künstlerin, die bereits mit Major-Labels zusammengearbeitet hat und das Geschäft vom höchsten Qualitätsstandard her kennt.”
Diese Sätze mag man Tom fast nicht glauben. Denn zwischen 2012 und 2015 war er Chefredakteur von FACT. Local Action wurde bis dato von Noisey, Juno, Thump, Mixmag, Clash und anderen Publikationen zum Label des Jahres gewählt und dreimal bei den AIM (Association of Independent Music) Awards als bestes Klein-Label nominiert. Gleichzeitig managt er Künstler*innen von Local Action, internationale Top-Acts wie Jammz, Mumdance und India Jordan.
Schaut man hinter die Kulissen, bekommt man leicht das Gefühl, Lea ist einer der einflussreichsten und lässigsten Strippenzieher*innen, die Londons Underground-Musikszene in den letzten zehn Jahren zu bieten hat. Das liegt einerseits an seiner angenehmen, ehrlichen und wertschätzenden Art und sicherlich auch an der eklektischen Genre-Vielfalt seines Labels zwischen Grime, Rap, Nu Disco, Breakbeats, Footwork, Ambient, House, Garage, UK Funky, UK Bass und Balearic.
„Durch die Label-Partys wuchs nach und nach ein soziales Geflecht zusammen.”
Tom Lea
Die Auswahl der und der Kontakt zu den Künstler*innen des Labels lief dabei immer recht undogmatisch und bodenständig ab. Manchmal recherchierte Lea Künstler*innen und kontaktierte sie einfach. Seltener kam es vor, dass er Platten herausbrachte, die er als Demo-Tape erhielt. „Eigentlich war das bisher nur bei T. Williams der Fall. Letztlich ist es eher eine ähnliche Szene, in der man sich befindet. Deshalb hat man Kontakt miteinander. Durch die Label-Partys wuchs nach und nach ein soziales Geflecht zusammen. Man lernt sich kennen, und über die Jahre wird das eine Art Familie. Ich leite das Label zwar alleine, aber deshalb betone ich immer das Wir, wenn ich über das Label spreche. Es ist eben eine gemeinsame Anstrengung der Künstler*innen, unseren verschiedenen Mitarbeiter*innen, Grafiker*innen, Praktikant*innen und von mir. Ich glaube, wenn ich das Label morgen aufgeben würde, wären alle Musiker*innen und ich immer noch Freunde.”
Das nimmt man ihm sofort ab. Sympathisch stellt er im Gespräch die Musiker*innen wesentlich stärker als sich selbst in den Vordergrund. Ein großer Unterschied zu vielen anderen Labelgründer*innen, die mit ihren Labels vorrangig ihre eigene Karriere als DJ oder Musikproduzent*in anschieben wollen. „Ich bin kein DJ. Ich mag das Plattenspielen zwar gerne, aber ich lege tatsächlich nur sehr selten auf. Natürlich bekomme ich wegen des Labels oft Anfragen, aber überwiegend vermittle ich den Künstler*innen des Labels diese Gigs.”
Ein Labelbesitzer, der so gar keine Ambitionen hat, selber eine DJ-Karriere in Betracht zu ziehen oder Musikproduzent zu sein, wirkt erfrischend. „Musikproduzent? Ich weiß, wie man Musik produziert und wie man Logic und Ableton benutzt. Ich habe mir diese Programme in den ersten zwei Jahren des Labels selbst beigebracht, damit ich den Künstler*innen ein angemessenes technisches Feedback zu ihrer Musik geben kann. Aber ich hatte nie den Wunsch, eigene Musik zu veröffentlichen, nein.”
Social Media sucks
Die Selbstvermarktung durch Social-Media-Kanäle sieht Tom kritisch und fügt hinzu, dass es „als Künstler*in leider aber heute extrem wichtig ist”, diese zu bedienen. „Ohne Local Action hätte ich höchstwahrscheinlich gar kein Social Media.” Wir plaudern über die Auswirkungen von Instagram auf die psychische Gesundheit. Die sieht er durch die ständigen Auswahlmöglichkeiten zwischen digitalen Medienformen, wegen des halböffentlichen Optimierungs-Imperativs und der permanenten Sichtbarkeit und Kontrolle auf den sozialen Plattformen bisweilen in Gefahr.
Und die sozialen Plattformen verschieben letztlich auch die Anforderungen der beruflichen Aufgabenfelder. „Im Jahr 2010 haben DJs noch Platten gekauft. Der Markt war völlig anders. Social Media hatte noch keinen so einen großen Einfluss. Instagram ist als Plattform auf eine bildliche Design-Ebene fokussiert und für die Vermarktung von Musik eigentlich recht unbrauchbar. Das gab es damals noch nicht.”
Als Vinyl-Label, das eine Art soziale Plattform 1.0 darstellt und die Beteiligten als Community begreift, ist Local Action dennoch im Zeichen der Zeit extrem breit aufgestellt. Die Bandbreite des Labels – die Tom als „high energy, high emotion electronic music” bezeichnet – ist stark abhängig von den musikalischen, aber auch visuellen Vorlieben der jeweiligen Musiker*innen.
„Ich profitiere sehr davon, langfristige Beziehungen zu Künstler*innen aufzubauen, und ich habe gelernt, Leute auf der Grundlage ihrer langfristigen künstlerischen Vision und ihrer Persönlichkeit unter Vertrag zu nehmen, nicht auf der Grundlage eines einzelnen Tracks. Ganz gleich, wie gut dieser sein mag.”
Und obwohl die einzelnen Platten einen strengen A&R-Prozess durchlaufen, betont er libertär und großherzig, wie wichtig es ist, dass seine Künstler ultimative künstlerische Freiheit haben. „Die Marke des Labels muss nicht an erster Stelle stehen”, fügt er hinzu.
Auf die Frage, was der Labelname für ihn bedeutet, entgegnet er: „Tatsächlich nicht wirklich viel. Ein Freund, der damals auch unsere Grafik machte, und ich schauten in ein wissenschaftliches Buch eines Mitbewohners. Wir wählten völlig wahllos einfach zwei Worte aus. Das war’s! Natürlich ging es tatsächlich aber schon auch einfach darum, die lokale Szene in London und UK abzubilden. Deshalb macht es letztendlich schon auch Sinn.” Demnach brodelt in Tom auch ein wenig Punk-Attitüde.
„Für jüngere Labels ist es unglaublich schwierig geworden, über eine bestimmte Größe hinauszuwachsen.”
Tom Lea
Wir schweifen weiter in die Abgründe der digitalen Musikindustrie ab. „Das Geschäft für ein unabhängiges elektronisches Label ist hart geworden – ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit dem Label und bin sehr dankbar dafür, aber ich glaube, dass die Zeiten, in denen ein neues unabhängiges Label mit Underground-Musik wirklich groß werden konnte, wie in den 1990er Jahren, im Grunde vorbei sind.”
Da hat Lea recht: Man konnte in den 1990ern fast keine Verluste als Independent-Musiklabel machen. Selbst die mieseste Platte mit weltweitem Vertrieb verkaufte sich locker 1000-mal und spielte dabei Gewinne ein. Es gab keine Möglichkeit, Musik ohne die Trägermedien Vinyl, CD oder Tonband abzuspielen und zu verbreiten. Und elektronische Musik war letztlich eine Mangelware.
Tom teilt offen seine Ängste in Bezug auf die Veränderungen in der Labelarbeit, die die Digitalisierung mit sich bringt. „Ich mache mir Sorgen, dass es heute eine Art Zweiklassengesellschaft gibt. Zwischen den großen Independent-Labels wie Ninja Tune oder Warp, die in den 1990ern ihr Geld verdient haben und in der Lage waren, ihren Betrieb zukunftssicher zu machen und Büros mit mehr als 30 Leuten aufzubauen. Und den Labels, die in den letzten 15 Jahren gegründet wurden – selbst die erfolgreichen wie Local Action. Für jüngere Labels ist es unglaublich schwierig, über eine bestimmte Größe hinauszuwachsen. Man muss wahnsinnig viel Arbeit investieren für sehr wenig finanziellen Ertrag. Die Alternative ist, dass man komplett ins Management oder den Vertrieb wechselt und die Labelarbeit aufgibt. Ich denke jeden Tag ans Aufhören, aber ein großer Teil der Arbeit ist wirklich erfüllend. Vor allem, wenn wir in der Lage sind, das Leben der Künstler*innen spürbar zu verbessern.”
Auf meine Frage zur Zukunft des Labels findet Tom trotz aller Krisenstimmung leger den Kreis zum Anfang unseres Gesprächs: „Nun ja, das weiß ich tatsächlich noch nicht so wirklich. Eigentlich war letztes Jahr unser zehnjähriger Label-Geburtstag. Den mussten wir natürlich wegen Covid-19 absagen. Den Geburtstag holen wir nun dieses Jahr nach. Und dazu bringen wir eine Best-Of-Release heraus.” Nur zu einem Thema schweigt Tom vornehm. Welche neuen Künstler*innen er für sein Label verpflichtet hat, will er nicht verraten: „Mal sehen”, sagt er.