Tim Isfort (Foto: Frank Schemmann)

Über Pfingsten versammeln sich Virtuos*innen, Dilettant*innen, Musikinteressierte, Neugierige, alte und junge Freaks für eine neue Ausgabe des moers festivals in Nordrhein-Westfalen. Was die Veranstaltung ausmacht, aus welchem Kontext sie entsprang, wie sie ihren Blick gen Zukunft richtet und warum es nicht reicht, sich auf internationalem Renommee auszuruhen, erklärt der künstlerische Leiter Tim Isfort im Interview.


GROOVE: Kannst du ein wenig zu deinem Lebenslauf sagen? Wo kommst du musikalisch her und wie sahen deine ersten Berührungspunkte mit dem moers festival aus?

Tim Isfort: Ich habe mit 14 in einer Schülerband den Post-Rock erfunden – das war 1981. Wir haben damals Punk-Rock mit deutschen Texten gemacht. Die Texte – na ja. Aber musikalisch ging schon – ich stand absolut auf The Who – ziemlich die Post ab. Und so hatten wir unsere Musikrichtung als Post-Rock bezeichnet, lange bevor das Genre erfunden war. Aber nach ersten Gehversuchen in Bands habe ich in den folgenden Jahren in meiner Heimatstadt Moers das New Jazz Festival entdeckt, und es haben sich Türen, Portale, Pforten zu neuen musikalischen Galaxien geöffnet: Free Jazz, Noise, Drone, Weltmusikalisches platzten plötzlich in meine Who-BAP-Pink-Floyd-Welt, und ich begann, mich für Ornette Coleman, Dave Holland und natürlich den ganzen, großen, breiten Jazz zu interessieren. Und ich war total enttäuscht, als ich mit 17 oder 18 feststellen musste, dass nicht jede Stadt so ein Festival hat wie Moers. Die anderen Festivals waren dagegen vergleichsweise langweilig.

Das moers existiert seit über 50 Jahren. Kannst du umreißen, wofür es stand und heute noch steht? Welche politische Dimension hat es?

Moers begann als Revolte, als Gegenbewegung. Aus der Idee, dem Geist, vielleicht auch der Naivität der 68er-Bewegung heraus. In vielen Gesprächen, die ich während der letzten Jahre mit Vertreter*innen der ersten Generation geführt habe, hörte ich Sätze wie: „Wir wollten die Welt einfach nicht mehr so haben, wie sie damals war” oder „Es ging wirklich noch um Entnazifizierung”. Das war also hoch politisch – und eine Erschütterung der verschlafenen kleinen Großstadt am Niederrhein. Deswegen gab es auch über Jahrzehnte Ängste, Ressentiments und Klagen gegen des Festival aus dem Bürgertum. Aber was auf der Bühne passierte, war von Anfang an frei, energetisch, experimentell, ungewohnt und avantgardistisch. In den ersten Jahren traf sich eine Elite, im positiven Sinne, des freien Jazz in Moers – und das war völlig neu, nicht vergleichbar mit den bereits bestehenden Jazz-Festivals, die es in der BRD und in Europa schon gab.

So wurde Moers zu einem Mekka des Free Jazz, der Avantgarde und von Unerhörtem und erreichte innerhalb weniger Jahre weltweite Aufmerksamkeit. Ich würde sagen, dass das musikalische Spannungsfeld über die Jahrzehnte nicht an Attraktivität verloren hat. Es gibt heute ein Koordinatensystem aus Improvisation, Elektronik, zeitgenössischer Musik, Minimal, exklusiven Laborprojekten und Postpunk, das das moers ausmacht. Und politisch versuchen wir, über das Programm, aber auch über Diskussionen und Panels eine Übersetzung der Fragen der Gründungszeit ins Hier und Jetzt zu finden.

Wie sieht das moers infrastrukturell aus? Wie viele Bühnen hat es, wo spielt es sich ab? Und wie sieht die Altersstruktur und die Zusammensetzung des Publikums aus?

Es gibt – wenn man so will – zwei analoge Hauptbühnen: die Festivalhalle und den magischen Rodelhügel, eine Art Amphitheater, das an die 70er und 80er angelehnt ist. Da regnet’s garantiert! Dazu in diesem Jahr erstmalig eine völlig unkuratierte Bühne: Die ANNEX soll in 13 Slots an vier Tagen von den Festivalmusiker*innen annektiert werden! Aber auch die digitalen Formate und Errungenschaften aus den beiden vergangenen Jahren sehen wir als gleichwertige Spielorte oder Bühnen: Neben dem ARTE-Livestream und unserem trashigen Moers TV auf unserer Webseite haben wir im letzten Jahr eine eigene VR entwickelt: Im „moersland” – wir sagen lieber „für euch ausgedachtes Raumvorhandenseinsgefühl” – kann man einen Trip durch 50 Jahre Festivalgeschichte machen, durch exklusive Klanginstallationen und -kompositionen wandeln oder die Ergebnisse unseres neuen hybriden Formats „@the same time” sehen. Also Konzerte in Gänze erleben, die vorher, in der analogen Welt, nur als Einzelkomponenten stattgefunden haben, zwar zugleich, aber an verschiedenen Orten! Diese Breite im Angebot von Formaten spiegelt auch die Publikumsstruktur wider: Während einige der Jüngeren Digital Natives oder noch jünger sind, haben wir auch Originale und Wegbgleiter*innen aus allen Festivaldekaden zu Gast – die ältesten Freaks sind weit über 70!

Das moers genießt einen Ruf von internationalem Format. Wie kommt das und worauf achtet ihr beim Buchen des Aufgebots?

Ich weiß nicht, ob man sich darauf ausruhen sollte, angeblich ein international renommiertes Festival zu sein – das klingt irgendwie veraltet. Ich glaube, das moers ist bis heute dadurch interessant geblieben, dass es sich immer wieder neu erfunden, nie einfach nur wiederholt hat. Schon Festivalgründer Burkhard Hennen hat sehr früh treue Fans vor den Kopf gestoßen, die dachten, dass moers nun ein Free-Jazz-Festival bleibt, als er zum Beispiel die Einstürzenden Neubauten oder fernöstliche traditionelle Musik nach Moers geholt hat.

Die Unberechenbarkeit des Programms ist eine wesentliche Zutat der Magie des Festivals. Und es ist immer erlaubt gewesen, zu sagen „Das halte ich keine Minute länger aus!” – aber natürlich erst nach 15 Minuten. Heute versuchen wir eigentlich, diesem Konzept treu zu bleiben, und suchen die Künstler*innen für das Festival nach Kriterien wie Glaubwürdigkeit, überzeugender Energie, musikalischem Wagemut, politischer Haltung oder gereiftem Virtuosentum aus. Das ist natürlich supersubjektiv, willkürlich und ein bisschen arrogant. Aber wir, das sind halt ein paar Leute, die durch Moers geprägt sind und verstanden haben, was der Unterschied zum Mainstream – ob im Jazz, Electro oder im Contemporary – ist.

Worauf liegt der programmatische Fokus in diesem Jahr? Wie setzt ihr das Konzept der Hybridität um?

Musikalisch gibt es nicht den einen Fokus. Da sind Blicke nach Israel, Brasilien, Äthiopien, Myanmar, die USA oder Italien, die irgendwie gleichberechtigt nebeneinander stehen. Und viele einzelne Acts oder zufällig entstandene Reihen; wir haben zum Beispiel drei Aerosoli von interessanten Gitarristen im Line-up, was gar nicht geplant war. Aber wenn man so will, ist eine Hauptfrage des Festivals in diesem Jahr, ob es echte Hybridität gibt, einen Mehrwert im Digitalen, der die Leute wirklich berührt. Nach zwei Online-Editionen mit vielen digitalen Experimenten wollen wir das Gelernte nicht einfach wegwerfen, sondern entwickeln diese Sachen weiter. Es kann Spaß machen, im moersland durch das 600 Meter große 3D-Plakat zu wandeln, während man die Live-Konzerte hört. Oder die Resultate zusammen mit anderen Avataren aus aller Welt zu erleben.

Wir haben mit dem „Fachbereich für nicht-anthropogene Musik” einen Festivalbaustein, in dem Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Roboter oder Commodore-Rechner den Ton angeben. Das wird wunderbar! Es geht ein wenig darum, Wege zu finden, wie wir das Fehlen des sozialen Ereignisses eines Festivals, das 48 Jahre lang wie selbstverständlich an Pfingsten da war und dann plötzlich zwei Jahre in physischer Distanz stattfinden musste, kompensieren können. Oder besser noch: Wie wir den Herausforderungen von Klimawandel, Pandemie und fortwährenden Krisen und Kriegen klug begegnen können. Da gehören digitale Formate künftig zwingend zum gewachsenen analogen Ritual.

Das moers sieht sich selbst in einer Hofnarrenrolle im Festivalzirkus. Wie äußert ihr spielerisch Kritik der Branche gegenüber?

Tja, die Hofnarrenrolle ist vielleicht nur ein anderes Wort für unclassifiable, nicht klar einzuordnen oder ein bisschen schräger, als viele klar definierte Events. Moers ist inhaltlich keinem Genre klar zuzuordnen, genauso wie es nicht eindeutig Ruhrgebiet oder Niederrhein ist. Momentan arbeiten wir mit dem Subtitel: „Jazzfestival für Musik, Individualität, Politik, Medienkunst und: Zusammensein!” Griffig, nicht wahr? Vielleicht findet sich darin die Zerrissenheit, die aktuelle Verlorenheit der Kulturszene irgendwie wieder. Abgesehen von einigen Theaterinszenierungen erlebe ich die Kulturlandschaft insgesamt nicht gerade als besonders kritisch oder politisch engagiert – auch hier möchten wir mit politischen Diskussionen und Panels vorweg gehen und einmal mehr Avantgarde sein.

Groove präsentiert: moers festival 2022

3. bis 6. Juni 2022
Tickets: ab 25€, Tagesticket 45€, Festivalpass 159€

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