Stephan Bodzin an der Uferpromenade des Tejo in Lissabon (Sämtliche Fotos: Alexis Waltz)
Kaum ein Producer hat den globalen Siegeszug von Tech-House in den 2000ern so geprägt wie Stephan Bodzin. Dabei ist er nicht auf einen Stil zu reduzieren. Es gelingt ihm, Techno-Ekstase, alteuropäische Kompositionskunst und ebenso ein Verständnis der elektronischen Musik als Ausdruck einer kosmischen Schönheit zusammenzubringen.
Unter seinem bürgerlichen Namen wurde Stephan Bodzin durch gemeinsame Tracks mit Marc Romboy bekannt. Danach veröffentlichte er eine Reihe von Alben als einer der maßgeblichen elektronischen Live-Acts. So präsent er als Live-Act ist, agiert er doch zurückhaltend. Seine 350.000 Instagram-Follower hält er ebenso auf Distanz wie seine Fans, die sich mit wenigen Veröffentlichungen zufriedengeben müssen. All das war für GROOVE-Chefredakteur Alexis Waltz Grund genug, um Bodzins Album Boavista zum Anlass zu nehmen, ihn in seiner neuen Wahlheimat Lissabon zu besuchen.
Eine alte Straßenbahn bringt aus dem Stadtzentrum von Lissabon in den Vorort Belém. Ich bin mit Stephan Bodzin in der Kantine des MAAT, dem Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia, zum Lunch verabredet. Über eine Brücke überquere ich die Bahnschienen und stehe auf der majestätischen Uferpromenade des Tejo, der einige Kilometer von hier in den Atlantik mündet. „Hat zu, sitze davor”, lese ich auf dem Display meines Telefons.
Die Treppen des modernen Gebäudes, das die Linie der Uferpromenade aufnimmt und mit dem Grau des Betons und dem Blau von Himmel und Wasser verschmilzt, verbreiten eine großzügige, mediterrane Stimmung. Bodzin sitzt auf einer der Stufen.
Er begrüßt mich herzlich. Wir hatten uns 2019 flüchtig auf dem Melt kennengelernt. Da hat er am Freitagnachmittag auf der Big-Wheel-Stage ein Set gespielt, das ihm so großen Spaß zu machen schien wie den Tanzenden, die sich vor der Bühne tummelten.
Bodzin erinnert sich noch gut an diesen Nachmittag im Hochsommer. Für einen Track am Ende ist sogar sein Sohn dazugekommen. Der hat mit seiner Band, einem Hip-Hop-Act, auf einer anderen Bühne gespielt. „Das war ein erhebender Moment”, sagt er und schaut mir in die Augen. Er wirkt wie ein Mann, der mit sich im Reinen ist.
Coronabedingt hat das Lokal im Museum geschlossen, so gehen wir in ein Hotelrestaurant nebenan, in dem „mittelmäßige, überteuerte Pasta” serviert wird, wie er erklärt.
Aus der Sommerlicht treten wir in ein elegantes, schwarz gestaltetes Hotelrestaurant. Wir sollen hier warten, erklärt man uns. Jemand anders holt uns wenig später ab, um uns zum Tisch zu bringen. Ein wenig bürokratisch gehe es bisweilen in Portugal zu, erklärt Bodzin. Vor einigen Wochen ist er nach Lissabon gezogen, nachdem er 52 Jahre fast ununterbrochen in Bremen gelebt hat.
Wenige Minuten später sitzen wir an einem Tisch auf der schmalen Terrasse, ein paar Meter vom Wasser entfernt. Nach einigen Regentagen scheint jetzt die Sonne. Wir vertiefen uns in die Karte.
„Ich nehme Risotto Milanese, nein, Gambari. Aber, anyway. Wir sind nicht zum Essen hier”, sagt Bodzin. Richtig. Ich bin nach Lissabon gereist, um diesen Musiker kennenzulernen, der immer ein wenig im Abseits stattfand und gerade daraus ein Erfolgsmodell machte. Anlass für mein Besuch ist sein drittes Album Boavista. Es ist ruhiger als die beiden Vorgänger, finde ich.
„Ist es gar nicht”, erwidert Bodzin bestimmt.
„Ich habe deine drei Alben noch mal hintereinander gehört. Man hat das Gefühl, dass du zur Ruhe kommst.”
„Das habe ich tatsächlich schon gehört. Das find’ ich auch”, lenkt er jetzt ein.
Eine bestimmt Ruhe gab es schon immer in seiner Musik, auch in den ersten Platten mit Marc Romboy, bei denen er zum ersten Mal seinen bürgerlichen Namen verwendete. Dieser lässige, slicke Tech-House grenzte sich von der grellen Aufgekratztheit der Neunziger ab. Feiern ist erwachsen geworden.
„Einen Rechner hatte ich mit und einen Kopfhörer, der hat sich irgendwann aufgelöst wegen Salzwasser und Sonnencreme.”
Bodzin denkt einen Moment nach, blickt auf das Blau des Tejo, der an uns vorbeifließt.
„Es ist tatsächlich so, dass ich ruhiger und zufriedener bin, nicht mehr so gejagt. Ich bin angekommen. Ohne jetzt anzuhalten. Dass ich nicht mehr auf Teufel komm’ raus jede Show spiele. Auch durch die Auszeit, die wir da alle hatten.
Stephan war 15 Jahre lang mehr oder weniger ununterbrochen unterwegs. Wie hat er erlebt, dass das plötzlich nicht mehr ging?
„Grundsätzlich total positiv, was natürlich auf meine privilegierte Situation zurückgeht. Ich weiß, dass Künstler und Zulieferer einfach nur gelitten haben in der Zeit. Ich kenne viele junge, talentierte, ambitionierte Menschen, die gerade Luft geholt haben, denen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die einfach ihre Perspektive verloren haben.”
Für Bodzin wird es weitergehen. Bis zu diesem Moment kann er von Erreichtem und Erspartem zehren. Für Acts an er Schwelle zum Erfolg ist das anders.
„Irgendwann ist die Kerze aus, dann ist das Feuer weg. Das war traurig mitanzusehen hier und da. Da mag ich kaum noch von mir erzählen.”
„Ist das Album in der Zeit entstanden oder schon davor?”
„Ich mache sonst keine Musik, weil ich zu kopfig bin, weil ich nichts fertigstelle, weil es nicht geil genug ist.”
„Dann hast du 500 unveröffentlichte Tracks irgendwo rumliegen?”
„Aber die sind nicht fertig. Ich habe 500 unveröffentlichte Ideen.”
„Skizzen?”
„Fortgeschrittene Skizzen. Ich mache ja immer Musik. Über die Jahre, permanent. Meine Rechner sind voll.”
Er dehnt das Wort „Voll”, wie es im nur Bremer Dialekt möglich ist.
„Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Ich hab’ dann in der Pandemie – ich war lange in Brasilien – gut zur Ruhe gefunden, losgelöst von allen Erwartungen.”
„Wie hat es sich ergeben, dass du in Brasilien warst?”
„Im Dezember 2020, als alle gesagt haben, Brasilien geht gar nicht, Land unter, sind wir da hingefahren, mit der Connection zu einer Unterkunft bei einem Kumpel, und waren da erst mal safe. Gar keine Kontakte, einfach nur am Strand. Einen Rechner hatte ich mit und einen Kopfhörer, der hat sich irgendwann aufgelöst wegen Salzwasser und Sonnencreme. Da musste ich die Ohrmuscheln mit medizinischem Tape zusammenpacken. Da habe ich angefangen, zu sortieren. Das ging da.”
„Was hätte dich zu Hause daran gehindert?”
„Ich denke dann meistens: Das kannst du nicht nochmal machen, das muss irgendwie fresher. Die klangen da plötzlich gut.”
„Ich bin überrascht, dass du am Laptop produzieren kannst. Bei deinem Sound habe ich mir vorgestellt, dass du ein großes Studio hast.”
„Mit dem einen Sound ist das scheiße, schwach. Mit dem anderen Sound ist das plötzlich was ganz Großartiges.”
„Das hab’ ich, das ist aber noch in den Cases. Ich bin ja erst kurz hier, den Raum für das Studio habe ich jetzt hergestellt. Handwerker zu finden, um die Decke abzuhängen, war nicht so easy. Es ist aber noch kein Tonstudio. Ich habe in Brasilien sortiert, gerne auch bei einer halben Flasche Wein mitten in der Nacht, das habe ich früher nie gemacht. Das war alles anders.”
„Du hast die Freiheit genossen.”
„Ist so, total. Ich habe Sterne geguckt und fotografiert und zwischendurch Melodien sortiert und eben auch arrangiert bis zum Ende, mit so einem kleinem Controller. Die Basslines habe ich schon vorher aufgenommen. Ich hatte schon eine große Kollektion von Recordings aus dem großen Studio, die ich noch nicht fertiggemacht hatte.”
Die Bedienung kommt an den Tisch, Bodzin bestellt ein Risotto mit Spargel und Burrata und eine Cola Light, ich Pasta Calamarata.
„Du machst keine Sounds am Computer”, kehre ich ins Gespräch zurück.
„Doch!”, erwidert Bodzin fast ein wenig vorwurfsvoll. „Ich bin ein großer Fan der Arturia-Geschichten. Wenn du die durch eine zielführende Kette von digitalen Dynamik-Prozessoren schickst, wird kein Mensch jemals den Unterschied hören. Deshalb finde ich die Diskussion über Analog und Digital nicht zielführend. Ich finde es toll, wenn man eine große Modularwand hat.”
„Manche sammeln eher Geräte, als wirklich Musik damit zu machen.”
„Mein Vater hatte eine gigantische Sammlung. Ich bin aufgewachsen zwischen Synthesizern in einem Kraftwerk- oder Tangerine-Dream-Studio. Alles, was dir einfällt – das hatte ich als Kind.”
„Dein Vater ist auch Musiker?”
„Der ist bildender Künstler, ich habe mich immer gefragt, woher er das Geld hatte. Wir hatten ein wahnsinniges Studio. Er hat sein Geld mit Stahlbildhauerei verdient. Ich konnte schon mit zehn schweißen.”
„Du bist kein reiner Techno-Künstler, deine Tracks sind nicht bloß Tracks, sie funktionieren auch als Songs. Trotzdem machst Du nicht nur Popmusik mit elektronischen Mitteln, sondern entwickelst einen tiefgreifenden, kosmischen Sound.”
„Am Ende ist das der Struggle der Geschichte. Ich denke und fühle sehr musikalisch, das ist ja immer relativ, was musikalisch ist und was nicht. Ich habe ein gewisses harmonisches Verständnis, das ich umsetzen möchte. Das muss befriedigt werden. Das kann auch ganz einfach sein, ein ganz einfacher Wechsel an der richtigen Stelle, mit dem richtigen Sound. Mit dem einem Sound ist das scheiße, schwach. Mit dem anderen Sound ist das plötzlich was ganz Großartiges.”
Er dehnt im Bremer Dialekt das O und A von „Großartig” und klingt dabei ernst und fordernd.
„Die Melodien aller großen Künstler, die ich schätze, sind einfach, von Miles Davis bis wohin du willst.”
„Ist es deshalb so schwierig etwas fertigzustellen?”
„Der Struggle ist, den richtigen Sound zu finden und den der richtigen Melodie zuzuordnen. Einfach nur geile Melodien spielen, ist nicht Sinn der Sache. Das kriegt keinen.”
„Vielleicht bist du zu hart zu dir.”
„Ich spiele ja sehr viel live und bekomm’s auch zurück. Ich dreh’ die Geschichten ja auch live, die meisten Synths, nicht nur den Moog, auch die anderen, die dann als Arturias [als virtuelle Synthesizer, d.Red.] laufen. Wenn ich die nicht an der richtigen Stelle drehe, ist der Impact weg oder es funktioniert nicht.”
„Ich bin dann nach Kärnten gegangen und habe da zweieinhalb Jahre Theater mit ihm gemacht, ganz krasses Zeug. Mit den ersten Akai-Samplern Erdbeben erzeugt aus dem Geräusch einer Feile.”
„Die Leute spüren das auch?”
„Total. Es ist nicht so einfach, eine Crowd mit so einer Melodiewand eineinhalb Stunden bei der Stange zu halten. Ein DJ kann eine ganz andere Dynamik reinbringen. Ich lege auch auf, aber nur sehr selten, um mal den oder anderen Track zu spielen. Es gibt so viele großartige Künstler.”
„Ich finde es interessant, dass du überhaupt von einem Struggle sprichst. In Deiner Musik spürt man den nicht.”
„Deshalb veröffentliche ich so selten.”
„Du hast wenig gemacht, jede Veröffentlichung ist ein Statement. Nach den Kollaborationen mit Oliver Huntemann und Thomas Schuhmacher kamen die ersten Maxis mit Marc Romboy, dann dein Debütalbum, mit dem du dich als Solokünstler emanzipiert und als Albumkünstler etabliert hast. Dann hast du nur noch zwei Maxis gemacht: für Life & Death und Afterlife. Das ist eigentlich schade.”
„Total schade.”
„Für eine Generation jüngerer Künstler*innen bist du Vorbild, für Tale Of Us etwa.”
„Das ehrt mich natürlich. Was soll ich dazu sagen? Ich bin schon lange dabei, und es gibt Menschen, die sich von meiner Musik inspirieren ließen. Das sind keine Kopien. Ich wurde auch inspiriert. Ich fand in den Neunzigern Westbam und Members of Mayday toll und habe Beats durch den Vocoder gejagt, das war damals so das Ding. Tag ein, Tag aus hab’ ich versucht, deren 808-Geschichten nachzuprogrammieren. Bis es genauso geklungen hat. Das kannst du natürlich nicht veröffentlichen. Ich wollte wissen: Wie geht das?”
„Du hast erst relativ spät angefangen, unter deinem Namen zu veröffentlichen, 2003, da warst du 34. Was für ein Kapitel ging da zu Ende, welches begann?”
„Ich habe erst mal Theater gemacht, vier Jahre, von 18 bis 22. Schauspiel, Tanztheater, in Deutschland und Österreich, mega experimentelles Zeug. Das muss ich mal digitalisieren. Ich habe in Bremen mit dem einzigen Schüler von [Tänzer und Choreograf, d.Red.] Johann Kresnik zusammengearbeitet. Über den habe ich Zdravko Haderlap kennengelernt. Heftige Freaks, unter drei Promille konntest du mit denen gar nicht kommunizieren. Das war ganz schön anstrengend. Ich bin dann nach Kärnten gegangen und habe da zweieinhalb Jahre Theater mit ihm gemacht, ganz krasses Zeug. Mit den ersten Akai-Samplern Erdbeben erzeugt aus dem Geräusch einer Feile oder Gabeln an Glas.”
„Klingt nach den Einstürzenden Neubauten, nach Industrial.”
„Industrial gepaart mit klassischen Ansätzen, mit den Sampler hab’ ich plötzlich ein Orchester zur Hand gehabt. Ich habe Alien bis Alien 3 abgesamplet, mich am Soundtrack bedient und das mit den Geräuschen zusammengemischt. Das war anstrengend, mega inhaltsschwanger. Ich finde Inhalte gut, aber Ende war das zu viel. Immerhin habe ich da meine Ex-Frau kennengelernt, die Mutter meines Sohnes, der ist jetzt 25.”
„Mich hat es aber auch mal zu Metallica verschlagen, ich habe versucht, mich in allen musikalischen Richtungen zu verwirklichen.”
„Das hat dir ein Gefühl dafür gegeben, was ästhetisch möglich ist, einen Horizont jenseits von Club- und Popmusik gegeben.
„Gleichzeitig habe ich bei einem ganz tollen klassischen Film- und Theaterkomponisten in Bremen mit 18, 19, 20 Kompositionsassistenz gemacht am großen Haus des Bremer Theaters, bei Uli Harmsen. Der hat wie meine Familie in Worpswede gelebt, bei dem habe ich zwe Jahre mehr oder weniger gewohnt.”
„Und gelernt, wie man komponiert.”
„Wenn du so willst. Ich bin da schon ganz früh mit aufgewachsen. Mein Vater kommt aus der Klaus-Doldinger-Weather-Report-Miles-Davis– und eben auch Kraftwerk-Ecke.”
„Aber er hat keine Musik gemacht.”
„Doch, aber eben nicht erfolgreich. Wir hatten nicht viel Geld. Don’t get me wrong. Der hat sich das geleistet. Das, was er hatte, hat er in Instrumente gesteckt. Da schlage ich die Hände über dem Kopf zusammen. Ich bin wie gesagt zwischen Klaus Schulze, Tangerine Dream und Miles Davis aufgewachsen, daher habe ich mein harmonisches Verständnis. Ich weiß nicht, ob dir John Adams was sagt.”
„Nein.”
„Das ist ein zeitgenössischer amerikanischer Opernkomponist. Ich bin auch ein großer Hans-Zimmer-Fan, seine simplen Melodien sind sehr gut in Szene gesetzt, ein guter Dramaturg. Du brauchst nicht viel, das ist simpelste Pentatonik, gut arrangiert. Das ist guter Verkäufer. „Gänsehaut an der Stelle, da noch ein bisschen mehr” – das macht der, und das ist nicht so leicht. Das muss echt sein. Das kannst Du nicht konstruieren, das musst du fühlen.”
„Wie kam dann Techno ins Spiel?”
„Mein Bruder ist DJ, bis heute, aber nur regional in Bremen. Er ist anderthalb Jahre älter als ich. Er legt House, Soul, Funk und Disco auf.”
„Oliver Bodzin.”
„In Bremen ist er eine Koryphäe. In Bremen ist Bodzin ja Oliver. Mit 18 bin ich immer hin, wenn er aufgelegt hat, im Delight, im Scala. Der hat später auch Elektronisches auflegt. Mich hat es aber auch mal zu Metallica verschlagen, ich habe versucht, mich in allen musikalischen Richtungen zu verwirklichen, habe auch zehn Jahre Bass gespielt in Bands.”
„Damals wurden irre Fees für Remixe gezahlt, die wir plötzlich in rauen Mengen herstellen mussten. So gingen die Neunziger ins Land.”
„Du hast dir das volle Programm gegeben zwischen Pop und Avantgarde.”
„Ich habe auch zehn Jahre klassisches Klavier gespielt.”
„Was hast du da so gespielt?”
„Was man da so spielt, von der Forelle bis was weiß ich.”
„Synthesizer-Nerd, Bassist, Pianist und Komposition hast du auch gelernt – du bist ein ausgebildeter Musiker.”
„Das würde ich nicht so nicht sagen. Ich hab’s nicht studiert. Das Leben hat mich vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. Ohne Zertifikate, aber alles gemacht.”
„Wie hast du angefangen, Techno zu produzieren?”
„Ich habe mit 19, als ich noch beim Theater war, begonnen, meine Vierviertel-909 zu verzerren. Schön langsam, also 145 BPM, nichts Schnelleres. Ich habe dann wahnsinnig schleimige Trance-Sachen produziert, Diggedi, Diggedi, Diggedi. Bis das auch veröffentlicht wurde. Unter Namen, die ich hier nicht nenne.”
„Da bist du heute nicht mehr stolz drauf.”
„Es ist, wie es ist, ich bin hier, weil ich gemacht habe, was ich gemacht habe. Ich bin ganz zufrieden damit. Der Weg ist der Weg. Das hat schon alles seine Berechtigung. Ich habe in den Neunzigern ohne Wenn und Aber Trance geballert. Dann habe ich Oliver Huntemann getroffen, mein Bruder kannte den. Huntemann war gerade durch mit [seinem Trance-Projekt, d.Red.] Humate, schon ganz früh. Hat Produzenten gesucht. Aber das Thema muss man hier nicht weiter vertiefen.”
„Mit Oliver Huntemann hast du ab Mitte der Neunziger bis Mitte der Zweitausender zahllose Platten produziert.”
„Da gab es einen super Einfluss aus dem Electro-Bereich. Wir haben wahnsinnig viele Electro-Platten gesamplet. Von Bambaataa angefangen hin zu allem, was es Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger gab. Ich habe eine riesige Library, die muss ich irgendwann mal meinem Sohn vermachen. Teile davon hat er schon.”
„Ihr habt unter zahllosen Pseudonymen produziert.”
„Unter anderem haben wir Kay Cee gemacht, ein Trance-Projekt, das aus dem Stand recht erfolgreich war. Damals wurden irre Fees für Remixe gezahlt, die wir plötzlich in rauen Mengen herstellen mussten. So gingen die Neunziger ins Land, bis ich mich musikalisch da komplett verloren hab’.”
„Im Trance. Aber du konntest gut davon leben.”
„Da hab ich morgens zwei Minuten geduscht und war fünf Minuten später im Studio, sieben Tagen die Woche, zwölf Stunden.”
„Das ist das Ding: Ich konnte ganz gut davon leben, habe aber auch alles ausgegeben. Ich habe musikalisch vieles gelernt, aber ich habe nicht gelernt, das Geld zu behalten. Von daher war ich auch schnell wieder pleite. Ich hatte einen schönen Deal mit meiner jetzigen Frau, die ich Anfang 2000 kennengelernt habe: Entweder du kriegst das geregelt mit der Musik, oder wir kaufen uns von dem, was wir haben, einen Bully und reisen durch die Welt. Das war der Deal. Das war im Dezember 2004, und im Januar habe ich Rekorder 1 gemacht und in einer einzigen Februarwoche Recorder 2 bis 5. Das wird mir bis heute nachgetragen. ‚Du wolltest einfach nicht mir im Bully um die Welt fahren’, sagt meine Frau, weil es direkt nach dem Deal losging. Ich verstehe sie da schon.”
Die Bedienung stellt die Teller auf Tisch. Meine Meeresfrüchte sehen appetitlich aus, Bodzins Risotto ist knallgrün und als perfekter Kreis angerichtet. „Hau rein”, wünscht mir Bodzin. Ich denke über seine Worte nach. Eine Karriere, die so richtig losgeht, gerade in dem Moment, an dem sie mehr oder weniger vorbei sein könnte.
„Wie hast du dich am Ende der Trance-Phase gefühlt?”
„Ich habe fast anderthalb Jahre gar keine Musik gemacht.”
„Hattest du einen Burnout?”
„So was, ja. Ich war regelmäßig im Studio, es kam aber nichts raus, das man verwerten konnte. Ich war einfach total unzufrieden und wusste nicht, wohin es jetzt geht für mich. Zurück zum Trance nicht, zum Pop aber auch nicht.”
„Habt ihr in der Trance-Zeit auch live gespielt?”
„Da hab’ ich nur Musik gemacht, 1000 Projekte. Damals konnte man noch Platten verkaufen, das haben wir auch fleißig getan, CDs vor allen Dingen. Ich denke, das war auch der Knackpunkt: Als 2001 der CD-Markt weggebrochen ist, sind auch viele Künstler weggebrochen, weil sich das Business in ganz kurzer Zeit dramatisch verändert hat. Da musste ich mich erst mal neu sortieren.”
„Wie ist dein neuer Sound entstanden?”
„Ich saß eines Tages bei Marc Romboy in Mönchengladbach und hörte Musik, Mathew Jonsons „Decompression”. Mathew weiß das. Dann bin ich nach Hause gefahren und habe gleich „Caligula” und „Marathon Man” an einem Tag gemacht, die erste Stephan-Bodzin-EP, gleichzeitig die erste Rekorder-Nummer, das war alles dieselbe Zeit. Morgens habe ich zwei Minuten geduscht und war fünf Minuten später im Studio, sieben Tage die Woche, zwölf Stunden. Ich war drei Jahre nur im Studio, bin nicht in Urlaub gefahren. Ich weiß nicht, viele Platten von mir gleichzeitig auf dem Markt waren.”
„Neben den Tracks mit Marc Romboy und Rekorder hast Du auch Electro House als Elektrochemie für Get Physical produziert und geradlinigen Electro für International Deejay Gigolo. Wann hast du dann angefangen, live zu spielen?”
„2007 mit dem Album Liebe Ist… Da gab es noch keine Touchpads, kein iPhone, die Technologie war noch nicht entwickelt. Der Lemur, das war das einzige Gerät, das das hatte, so ein schweres 2000-Euro-Teil. Davon habe ich mir drei gekauft und ein neues Case bauen lassen. Das hab ich abgefilmt und projiziert, damit die Leute an dem Live-Ding teilhaben können.”
„Was war der Hit, mit dem du mit dem neuen Sound wahrgenommen wurdest?”
„Ich bin da langsam reingewachsen, ich hatte nie einen Hit, der so reingedonnert ist. Das hat langsam aufeinander aufgebaut. Wenn dann vielleicht ‚Singularity’ von 2015, die Afterlife-Single. Das war vielleicht der Peak schlechthin.”
„Es macht keinen Sinn, dass die Leute mich fragen, was denn hier los ist. Es macht aber auch keinen Sinn, alle zu pleasen.”
„‚Luna’ war damals auch groß, 2005.”
„War auch groß, ja. Ich habe super Sachen gemacht mit Marc, da bin ich stolz drauf. Wir haben versucht, unsere Ästhetik und unser Melodieverständnis zusammenzubringen, das ist immer ein super Pairing gewesen.”
„Wie war eure Chemie, wie habt ihr zusammengearbeitet?”
„Die Chemie zwischen Marc und mir war immer sehr gut, sehr respektvoll und auch sehr frei. Wir konnten uns immer total gehen lassen. Die erfolgreichen Duos setzen sich immer aus einem zusammen, der eher DJ ist und und einem, der mehr Produzent ist.”
„Daft Punk, Modeselektor, Tale of Us.”
„So ein Team bekommt das schneller hin, als wenn einer da allein sitzt und beides gleichzeitig wissen muss, sein muss und können muss.”
„Das bringt uns zum Anfang unseres Gesprächs. Was ist alleine schwerer zu bewältigen als als Duo?”
„Ich will die Musik live performen, aber sie darf nicht so ballern, das ist einer der großen Struggles auf dem Album. Ich seh’ meinen Schedule, ich werde kein Listening Act, ich werde nicht plötzlich auf die Basslines verzichten. Ich mag die auch total gerne. Das ist tatsächlich zweischneidiger geworden. Ich performe das neue Album knackiger, ich performe das so, wie das wirken muss. Vor dem Gashouder-Gig hab ich im Flugzeug alle Basslines einfach mal ausgetauscht. Wenn du dir das anhörst, fragst du dich echt, was da los ist, das ist für den Arsch. Aber diese weichen Melodien mit einem ganz anderen Pfund drunter sind einfach geil. Was ich soll ich sagen?”
„Es unterstreicht die Qualität der Songs, dass sie auch im anderen Gewand funktionieren.”
„Ich rede jetzt nicht von mega Ballern, ich rede von Knackiger. Wenn ich das Album im Gashouder oder auf einem Festival zum Peak abspiele, funktioniert das nicht, außer es ist morgens um neun. Ich habe das Material, das ich habe. Ich spiele das schon mit breiter Brust und mach’ das mit viel Breaks, viel Dynamik und komm’ anders auf den Punkt, als das auf dem Album zu hören ist. Es keinen Sinn, dass die Leute mich fragen, was denn hier los ist. Es macht aber auch keinen Sinn, alle zu pleasen. Mein Kompromiss ist einer, mit dem ich als Künstler, als Performer und als Profi am Ende gut leben kann.”
„Im Gegensatz zu einem reinen Konzert kannst du mit dieser Dynamik auch in die Party eintauchen.”
„Ich baue meinen Live-Act noch ein bisschen mehr aus und bringe noch ein bisschen mehr Gear mit, werde ein bisschen analoger. Nicht, um mehr Spielzeug auf der Bühne zu haben, sondern um mich zu überraschen, als Herausforderung. Ich erzeuge für mich eine Spielwiese, die ich noch nicht so ausgetreten habe. Den Moog Matriarch stell’ ich mir auf die linke Seite. Da kannst du kein Preset abspeichern, der ist halbmodular. Das wird interessant. Ich weiß noch gar nicht, was ich mit dem mache.”
„Was Du hier siehst, ist kein Fluss, das ist der Atlantik.”
„Man sieht dir an, dass du Spaß hast, wenn du spielst. Aber du stehst natürlich an einem anderen Punkt als die Leute, die zuhören.”
„Das ist so. Und irgendwann wird es bei aller Liebe auch mal langweilig. Ich deliver dann trotzdem, aber es ist nicht so aufregend, dieselbe Nummer nochmal zu spielen – und nochmal und nochmal und nochmal. Das Album sollte schon längst auf der Bühne sein.”
„Can I have a double Espresso”, sagt Bodzin zur Bedienung. Für mich auch, bitte. Zeit für das Finale.
„Du bist sehr unabhängig. Du hast dein Label, aber du machst die meiste Musik selbst. Du hast nie versucht, eine Gruppe, eine Crew um dich herum aufzubauen oder dich irgendwo anzuschließen nach den Kollaborationen mit Oliver Huntemann, Thomas Schuhmacher und Marc Romboy.”
„Die Collabs sind seit mehr als zehn Jahren durch. Ich wollte mich nirgendwo zugehörig fühlen. Ich habe das Album ganz bewusst auf Herzblut gemacht, auch das Remix-Album kommt auf Herzblut. Ich hätte es auch woanders machen können, will aber unabhängig sein. Ich will mit Sven spielen, ich will mit Maceo spielen, mit Matteo, mit Mathew und allen anderen auch, wie es mir halt passt. Das kann man finanziell optimieren, das muss ich aber gar nicht. Ich mach die Musik, die ich mache, das ist Freiheit.”
Bodzin hört auf zu reden, schaut in die Weite der Bucht, in den blauen Himmel.
„Das hier manifestiert den Drang nach Freiheit, nach Leben und Glück für mich und für meine Familie, die ist mir unglaublich wichtig. Wir generieren hier viel mehr tolle Momente als zuletzt in Bremen.”
„Ihr habt nie überlegt, wegzuziehen?”
„Wir wollten immer wegziehen. Aber ich bin so penetrant um die Welt gezogen, dass sich das ein bisschen verloren hat. Wenn du 120 Shows im Jahr spielst, ist es mega wichtig, eine Homebase zu haben. Ich habe Kollegen, die haben sich gesagt, ich toure jetzt so viel, warum muss ich noch einen Wohnsitz haben? Ist doch ein geiles Leben. Daran habe ich Menschen scheitern sehen. Dann bist du total lost.”
„Hast Du Anfang der 2000er, als es losging mit deiner Solokarriere, erwogen nach Berlin zu ziehen?”
„Ne, hatte ich nie. Ich mag Berlin total gerne, und ich kenne da natürlich viel mehr Leute als in Lissabon. Es ist eine geile Stadt. Wir hatten 2016, 2017 nochmal eine Phase, wo wir darüber gesprochen haben, nach Berlin zu ziehen. Das war vor Lissabon auch eine Diskussion. Letztlich hat uns das Wetter abgehalten.”
„Berlin ist kein einfacher Ort für Musiker*innen, die Konkurrenz ist enorm.”
„In Bremen war ich alleine, da ist mir nichts vor die Füße gelaufen. Dann machst du halt so dein Ding. Wie entsteht etwas Eigenes, etwas Authentisches? Das will ich gar nicht so groß malen. Aber du musst schon stark sein in deiner Persönlichkeit als Künstler, um dich individuell und authentisch zu sortieren in einem Umfeld wie in Berlin. Sonst wirst du ja nur hin- und hergeschubst von den Wellen, die da hochschwappen. Wie willst du dich dem entziehen? Wie willst du dich entwickeln?”
Zeit für die Fotos. Vereinzelt laufen Tourist*innen über die Promenade. Wir sprechen über Bodzins Kolleg*innen, über Marcel Dettmann und Ben Klock, über Amelie Lens und Charlotte de Witte. De Witte lebt auch in Lissabon, vor einigen Wochen hat Bodzin sie zum Pizzaessen getroffen. Dettmann hat er gut kennengelernt, als er vor der Pandemie mit ihm durch Australien getourt ist.
Ich koche Dir noch einen Café, sagt Bodzin. Wir gehen über eine Brücke zu seinem Haus. Er zeigt auf das Wasser, Richtung Westen. „Was Du hier siehst, ist kein Fluss, das ist der Atlantik.” Das Haus liegt in einer kleinen Straße, es hat die farbigen Kacheln, die die Altstadt von Lissabon prägen.
„Der Klavierdeckel ist immer offen.”
Wir gehen durch das alte, verwinkelte Gebäude. In einem Zimmer finden wir Bodzins vielleicht achtjährige Tochter, sie spielt mit einer Freundin. Ist deine Mama zu Hause, will Bodzin wissen.
Er stellt mich vor und erklärt, dass ich bin aus Berlin hergeflogen bin. Um mit ihrem Vater zu sprechen, erkläre ich. „Hast Du Höhenangst?”, fragt sie.
Wir gehen mit den Kindern in ein anderes Zimmer, in einen großen Raum mit einem Holzdach. Da stehen ein Klavier und ein alter Schellack-Plattenspieler mit 78 Umdrehungen. In den Aufnahmen ist die Vergangenheit gespeichert, erklärt Bodzin. Damals hat man nämlich direkt auf die Matrize aufgenommen, es gab keine Möglichkeit, die Klänge nachträglich zu bearbeiten. Die Tochter setzt sich ans Klavier und schlägt einzelne Tasten an und hört zu, wie in dem großen Raum Töne verklingen.
Wir gehen in den Garten, in einem kleinen Häuschen richtet sich Bodzin sein Studio ein, die Decke ist abgehängt, drei Holztische sind in U-Form angeordnet, ein paar Geräte stehen schon da.
Zurück im Hauptgebäude finden wir in der Küche Bodzins Frau. Sie heißt Luna Semara, ist ebenfalls Musikerin und tritt oft mit Bodzin auf. Während er die Kaffeemaschine bedient, erzählt sie, dass sie 19 Jahre in Bremen gelebt haben. Das sei viel zu lang gewesen.
Ich staune darüber, dass wirklich alle in der Familie Musik machen. Es wäre toll, alle Generationen und Zweige der Familie zusammenzubringen. Tatsächlich hat Bodzin in der Lila Eule in Bremen, einem kleinen Club für Student*innen und Schüler*innen, einmal eine Party mit Luna Semara, seinem Sohn, dem Hip-Hop-DJ und Producer Florida Juicy, und seinem Bruder Oliver Bodzin veranstaltet.
Dann kommt tatsächlich die Tochter herein, sie will etwas aufnehmen. „Das geht noch nicht”, erklärt Bodzin. „In dein Telefon”, erwidert sie pragmatisch.
Sie wollen sie nicht zum Klavierunterricht drängen, erklärt Bodzin. „Der Klavierdeckel ist aber immer offen.”
Bodzin bringt mich zum Bus. Draußen, stadtauswärts, gibt es Gegenden mit freistehenden Häusern, erklärt er mir. Es reizt ihn aber nicht, alleine in einem großen Haus zu leben, er will etwas vom Stadtleben mitbekommen. Er mag es, morgens zum Bäcker zu gehen. Vor dem Laden sitzt immer eine alte Frau, die grüßt ihn mittlerweile schon. Kostspielig sei der Umzug nach Lissabon durchaus. Er schaut auf das Haus, auf den strahlend blauen Himmel und weiß, dass es sich lohnt: „Das ist Freiheit, die ist unbezahlbar.”
Die Boavista Remixes erscheinen am 25. Februar. Mit von der Partie unter anderem: Solomun, Adriatique, Mind Against, Maceo Plex & AnVG, Boris Brejcha, Roman Flügel, Echonomist, Anfisa Letyago und Reinier Zonneveld.