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Galcher Lustwerk: Die Noten, die du nicht spielst

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Galcher Lustwerk (Sämtliche Fotos: Collin Hughes)

Auf einmal war er überall. Aus den kleinen portablen Boxen im Park, in den Bars, auf Partys und in den eigenen Youtube-Algorithmen – der Lo-Fi-House-Sound war Mitte des letzten Jahrzehnts praktisch omnipräsent. Einer der Wegbereiter*innen für den Sound, der in den 2010ern künftig ein überwiegend weißes und maskulines Phänomen bleiben sollte, war der afroamerikanische Künstler Galcher Lustwerk. Aus dem Nichts war der New Yorker Musiker 2013 mit seinem Mixtape 100% Galcher auf der Bildfläche aufgetaucht. Roher Lofi-Deep-House, geschwängert mit satten Flächen, verband sich darauf mit einer rauen Stimme, die zum Takt des Beats rätselhaft assoziative Texte rappte. 

Längst nicht mehr die mysteriöse Kunstfigur, die er früher einmal war, ist Galcher Lustwerk nun seit einigen Jahren eine gefestigte Größe in der House-Szene. In den letzten Jahren allerdings hat Chris Sherron, wie der Künstler mit bürgerlichen Namen heißt, einen musikalischen Wandel vollzogen. Obwohl er seinem Stil treu geblieben ist, hat er Abstand zur Lo-Fidelity gewonnen. Seine neueren Veröffentlichungen sind organischer und bergen mehr Luft um ihren Sound. GROOVE-Autor Johann Florin sprach mit Sherron über Coolness als politisches Statement, seine Musik und warum er gerne den Soundtrack einer Parfüm-Werbung schreiben würde.


Den Wahl-New-Yorker erreicht man derzeit nur per Instant Messenger. An einem Mittwochvormittag sitzt Sherron in seiner kleinen Wohnung in Queens deshalb am Handy. Obwohl er gerade, wie viele seiner Kolleg*innen, Arbeitslosengeld bezieht, bleibt Sherron aus der unfreiwilligen Abgeschiedenheit optimistisch. „Die Streaming-Zahlen steigen weiter an, darum bin ich zuversichtlich, dass sich Musikmachen immer noch lohnt”, verrät er mit Zwinkersmiley. Nur sein Gefühl für die Welt, für Zeit und Raum sei komplett verwirrt. Das Reisen sei für ihn früher ein schöner Weg gewesen den Kopf freizubekommen und die Zeit im Alltag zu unterbrechen. Heute fehle ihm das sehr. Trotzdem war 2020 für ihn ganz in Ordnung. Vor allem fleißig sei er gewesen. 

2020 – pünktlich zum 20.4.20 – erschien, neben der sechs Titel starken EP Proof, ein Album seines Nebenprojekts 420. Auf insgesamt 16 Titeln versammelt Sherron darauf vor allem Tracks, die meist eine ungewohnte Schnelligkeit an den Tag legen und überwiegend ohne seine Stimme auskommen. Mit Information (Redacted) erschien Anfang 2021 außerdem eine überarbeitete Instrumental-Version seines Albums Information. Mit den rein instrumentalen Versionen wolle er seinen Hörer*innen dabei die Wahl lassen. „Vor allem denjenigen, die kein Englisch verstehen, wollte ich meine Tracks auch ohne Vocals zur Verfügung stellen.” Der finanzielle Aspekt hätte aber auch mit rein gespielt, verrät er und ergänzt mit einem „haha”.

Erst vor einigen Jahren ist Sherron in die Metropole an der Ostküste gezogen. New York sei aber schon immer der Ort seiner Träume gewesen. Aufgewachsen ist er in Cleveland, Ohio. Am ehemaligen Rustbelt der USA gelegen, dümpelt die Stadt am Rande des Lake Erie heute in der Bedeutungslosigkeit. Als „ziemlich langweiligen Ort für einen Teenager”, bezeichnet Sherron seine Heimatstadt deshalb. Die kulturelle Landschaft beschränke sich nur auf wenig nennenswerte Institutionen und auch musikalisch sei nicht allzu viel los. 

Analoge Ungenauigkeiten einer Zeit in Sepia

Als Kind schickten ihn seine Eltern auf eine katholische Schule, Sherron konnte sich dort aber nie so recht einfinden. „Ich war ein ziemlicher Loner damals”, gesteht er heute. Nur Skateboarding und Musik habe ihn gerettet. Mit seinen Freund*innen, die alle nicht auf seine Schule gingen, verbrachte er seine Jugendzeit auf den Straßen und Skateplätzen der Stadt. Indie-Rock war dort damals viel zu hören, und auch Sherron war ein Fan. Der Klang dieser Musik übe heute noch einen Einfluss auf ihn aus. „Indie-Rock und die Landschaft des Mittleren Westens gehen bei mir Hand in Hand. Für mich hat die Musik deshalb immer eine sehr nostalgische Stimmung, zu welcher ich oft und gerne zurückfinde.”

Die Stimmung des Mittleren Westens wollte er auch auf seinem 2019, via Ghostly International erschienenen Album Information transportieren. Für Sherron kreiere die Musik des Mittleren Westens immer eine gewisse Leichtigkeit, vermittle aber gleichzeitig ein diffus bittersüßes Gefühl. Auf Information fanden dafür vermehrt Livedrum-Samples und Saxophon-Klänge Einzug in seine Musik. Insgesamt organischer scheint Sherrons Sound über die Jahre geworden zu sein. Um seine Tracks ist nun mehr Raum zu spüren. Nicht mehr so konzentriert und üppig wie die Titel seiner Lo-Fi-Phase, scheinen die Tracks auf Information mehrdimensionaler.

Bei Information gehe es um Spionage, schreibt Sherron. Er habe sich auf seinen zahlreichen Reisen oft wie ein Spion gefühlt. Unterwegs auf einer Mission mit einer ungewissen Aufregung im Gepäck. „Cameras In The Front, Cameras In The Rear/Every Time, Then I Disappear”, heißt es etwa auf seinem Track „I See A Dime”. 

Passen tut das Geheime zu Sherrons Persona allemal. Hüllte er sich doch noch bis vor ein paar Jahren in mysteriöse Rätselhaftigkeit. 2013 tauchte Sherron mit seinem Mixtape 100% Galcher wie aus dem Nichts auf der Bildfläche auf. Via Matthew Kents Blowing Up The Workshop erschien das lässig als „Some tracks and stems from 2012” beschriebene Tape auf Soundcloud. Kurze Zeit später hatte es sich zum meistgeklickten Beitrag von B.U.T.W. gemausert und wurde von Resident Advisor zum besten Mix des Jahres gekürt.

Der Analog-Fetisch sei für ihn nichts, erklärt Chris Sherron. „Zu viele Kabel, das ist mir zu unordentlich.” 

Roher Lo-Fi-Deep-House, geschwängert mit satten Flächen und überzogen mit sanften Rauschgeräuschen, verband sich darauf mit einer rauen Stimme, die zum Takt des Beats rätselhaft assoziative Texte rappte. Schon 2014 konnte ohne Umschweife behauptet werden, dass Sherron, mit seinem Moniker Galcher Lustwerk, einer der meistbeachteten Deep-House-Produzenten ist. Dennoch war länger kaum etwas über ihn bekannt. Sherron, der damals noch seinen Namen geheim hielt, war nur die Stimme, die in rauer, fast resignierter Art melancholische Bilder entstehen ließ. Eine Fantasiegestalt, die mit der dunkel treibenden Musik verschmolz und in den Köpfen der Hörenden eigene Wünsche als Person manifestierte.

Im Gespräch entpuppt sich Sherron, entgegen aller Erwartungen, als recht handfester, offener Mensch. Eigentlich hatte er gar keinen Marketing-wirksamen Hehl um seine Identität machen wollen. Damals habe er einfach keine Lust auf Presse oder Medien gehabt. In einer Welt, in der sonst jede Information sofort verfügbar ist, entstehe eine gewisse Rätselhaftigkeit bei Informationsmangel ganz automatisch.

Von 2012 bis 2018 war Sherron noch Teil der Gruppe um das Imprint White Material. Kennengelernt haben sich die Künstler bei ihrem Studium an der Rhode Island School Of gDesign, wo sie ihr gemeinsames Faible für House und Techno entdeckten. Angeführt von DJ Richard und Young Male entstand aus der Bekanntschaft ein Label. Vor allem Lustwerk begann dabei unter der White-Material-Flagge einen Lo-Fi-Sound zu entwickeln, der schon recht früh vorwegnahm, was DJ Boring und Konsorten später zum Internetphänomen Lo-Fi-House verarbeiteten. 

Als Gegenbewegung zur glatten, perfekt funktionierenden Digitalisierung kann der Erfolg des Lo-Fi-Sound im letzten Jahrzehnt vielleicht gedeutet werden. Als Reminiszenz an die analogen Ungenauigkeiten einer Zeit in Sepia. Oder schlicht als Suche nach Imperfektion im Dschungel der überproduzierten Deep-House-Gemengelage. Ironisch also, dass Sherron seine Musik fast ausschließlich am Computer produziert. Der Analog-Fetisch sei für ihn nichts, erklärt er. „Zu viele Kabel, das ist mir zu unordentlich.” Lieber baut er mit Plug-Ins den Sound von analogem Equipment nach. Den Klang von Tupacs „All Eyez On Me” etwa oder von Quasimotos „The Unseen”. Dafür recherchiere er das Equipment und probiere dann solange in Ableton den Sound zu imitieren, bis er zufrieden ist. 

Auf Distanz gehen, keine Angriffsfläche bieten 

So bekamen auch seine ersten Veröffentlichungen den rohen DIY-Sound, der im 20. Jahrhundert eigentlich ungewollt, aufgrund eines Mangels an hochwertigen Equipment entstand und erst später ästhetisiert wurde. Passend, dass Sherron eigentlich nie vorhatte Lo-Fi-House zu produzieren. „Ich war einfach bei zu vielen Noise-Shows und in so vielen Clubs mit schrecklichem Soundsystem, dass meine Ohren irgendwie auf Lo-Fidelity kalibriert sind.” Sein erster Besuch eines Clubs mit gutem Soundsystem sei erst 2011 im Londoner Plastic People gewesen. „Das hat mich richtig umgehauen. Da hab ich zum ersten Mal gemerkt, was für ein neues Spektrum über eine gute Anlage hörbar wird.” Heute seien zum Glück auch die Systeme in New York besser geworden. 

Neugierde begreift Sherron als eine seiner Qualitäten. Immer versuche er neue Ansätze in der Musik zu finden und studiere ständig die Musik anderer Künstler*innen. Permanent sei er auf der Suche nach neuen Wegen Sounds zu erforschen. „In meinem Titeln schwanke ich häufig zwischen funky, tanzbaren Grooves und eher atmosphärischen Klängen.” Dabei interessieren ihn die klanglichen Ambivalenzen, welche etwa in der Lobby eines Clubs zustande kommen.

Seine Neugierde trieb ihn 2015 auch dazu mit Lustwerk Music ein eigenes Label zu gründen. „Ich hatte gesehen wie Quinn von White Material am Vertrieb von Platten arbeitete und wollte die Erfahrung selbst machen. Außerdem hat mich immer schon interessiert, wie Tantiemen und das Verlagswesen generell funktionieren”, erzählt er. Mittlerweile hat er allerdings seine eigene Labelarbeit größtenteils beiseitegelegt. Die meisten neueren Veröffentlichungen Galcher Lustwerks laufen nun über Ghostly. „Ich versuche immer alles auszuprobieren, wenn ich davon lernen kann. Von kleinen bis großen Labels, Pop- bis Ambient-Remixen, bin ich eigentlich für alles offen”, erklärt er. „In letzter Zeit hätte ich sogar richtig Lust mal einen Soundtrack für eine Parfüm-Werbung zu schreiben”, erzählt er freimütig.

Ein Wort, das sich im Zusammenhang mit dem Künstler zu ungeahnter Akkuratesse mausert, ist Coolness. Wie kein anderer Begriff spiegelt Coolness das wider, was Sherron in seiner Musik transportiert. Mit seinen assoziativen, halb geflüsterten Texten, die er zum Beat seines dunklen Deep House rappt, erschuf Sherron eine neue Spielart des Hip-House. Unterkühlter und distanzierter klingt sie. Im Aufbau ähnlich, aber auch ganz anders als die aufgeregten, dynamischen Raps des Genres, das in den 80er und Anfang der 90er Jahre einen Höhepunkt erlebte.

Es ist das Ominöse, Chiffrierte, mit dem sich Sherron einem Angriff entzieht, es ist aber auch genau das, was seine Musik so anziehend macht.

Für Sherron erfüllt diese Distanz und Losgelöstheit in seiner Musik jedoch eine Aufgabe. Denn Coolness ist Sherrons Art politische Musik zu machen. Für ihn ist klar: „Coolness ist ein angelernter Verteidigungsmechanismus gegen Rassist*innen und andere voreingenommene Menschen”. Coolness sei das soziale Äquivalent davon sich totzustellen. Man gehe auf Distanz und biete so weniger Angriffsfläche. 

In seiner Musik hört man das. Doch vor allem in seinen Texten ist der Gedanke omnipräsent. Unfassbar und deshalb unangreifbar scheinen seine Vocals. Stream-of-consciousness-Texte, die sich allen Hörer*innen neu erschließen und teils wie zeitgenössische Poesie, teils wie Hip Hop daherkommen. Für ihn seien sie eine Art „verschlüsselte Übertragung, die versucht entschlüsselt zu werden”, erklärt er. Es ist das Ominöse, Chiffrierte, mit dem sich Sherron einem Angriff entzieht, es ist aber auch genau das, was seine Musik so anziehend macht.

„Es kommt nicht auf die Noten an, die du spielst. Es kommt auf die Noten an, die du nicht spielst”, sagte auch schon die Jazzlegende Miles Davis – der nicht umsonst als Erfinder des Coolen gilt. Sherron scheint diesem Bonmot in der Textfindung zu folgen. Konkretes findet man in seinen Texten wohl nicht. Nur Bilder, die zum Gefühl seiner Musik passen und Freiraum für eigene Ideen lassen. Es sind die unausgesprochenen Worte im Transit seiner assoziativen Texte, die anziehend wirken. Denn die Leere, die das Ungesagte schafft, gilt es durch die Hörer*innen auszufüllen.

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