Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Club-freie Zeit zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des August-Rückblicks mit Disclosure, Harmonious Thelonious, Kelly Lee Owens und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
A. G. Cook – 7G (PC Music)
49 Tracks, 7 Discs, ein Name: 7G. Verschwörungstrolle schmeißen vor lauter Freude schon mal ein paar Mobilfunkmasten um, so ultra-flashy und cutting-edge kommt das Debüt von A. G. Cook daher. Der Head von PC Music, Creative Director von Charlie XCX und kommende Producer von Sigur-Rós-Sänger Jónsi hat dafür seine Festplatten aus dem Schrank gekramt und mit dem Magneten drüber poliert. Das Ergebnis erkennen wir am Pulse-Demon-Gedächtniscover. Für den Sound haut sich Cook zwischen Lieblingsinstrumenten wie Drums (wow!) und Supersaw (au!) auch mal hinters Piano (miau!) und schnippelt an der eigenen Stimme rum, bis Synthies drüber heulen und die Covers von Swift, Sia und Blur niederbügeln, als hätte man Planierraupen im Autopilot über die Tesla-Teststrecke für Fahranfänger geschickt. Mit der Tendenz zur angeleiteten Achtsamkeits-Ekstase und „Put your hands up in the air“-Momenten zwischen Magic Life Club, Squarepusher und Natasha Bedingfield benetzt Cook die Hände mit Desinfektionsmittel. Hochglanzmagazine lernen das Fürchten. Verschwörungstheoretiker werden weggeballert („Polyphloisboisterous”!!!). Danke, tschau! Christoph Benkeser
Ase Manual – Black Liquid Electronics (self-released)
Mit Hochgeschwindigkeit wirbeln die Tracks in Schieflage durch violette Nächte. Das aktuelle Album von Ase Manual klingt nach psychedelisch durchtränkter Clubmusik, die in einer Halbwelt zu schweben scheint. Da sind die gebrochenen, schnellen, pochenden Kicks aus Jersey Club, die zum Ballroom-Battle auf die Tanzfläche ziehen. Auf der anderen Seite erzeugen nebulöse Synthesizer-Klänge das Gefühl, in zäher Materie zu waten. Und dazu passt dann auch der Titel des Albums, Black Liquid Electronics, als Beschreibung dieser Clubmusik-Experimente. Ase Manual hat in den vergangenen Jahren von Newark in New Jersey aus immer wieder Tracks in die Clubs geschickt, die mit ihrer klaren Funktionalität mitzogen. Black Liquid Electronics nutzt diese Funktionalität als hintergründigen Sog für verschwommene Klangwelten. Es gibt neben instrumentalem Jersey Club auch Tracks mit MCs, dazu kommen House-Nummern mit geraden Kicks. Ase Manual beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Genre und erzeugt mit seiner Musik Verbindungen und Assoziationen, wenn er zum Beispiel Samples auf Patois (einem englischsprachigen Dialekt, der u.a. auf Jamaika gesprochen wird) auf einen geraden House-Beat baut und damit Sound-System-Kultur mit Elektronik-Clubkultur verbindet. Auf hypnotisierende Weise bettet er die verschiedenen Sounds so auf eine Grundstimmung und macht damit Black Liquid Electronics zum Weg in ein eigenes, im positiven Sinn dunkles Universum. Philipp Weichenrieder
C418 – Minecraft Volume Beta (Ghostly International)
Die Welt, wie wir sie kennen, wird in näherer Zukunft wohl oder übel Geschichte sein: Im Zuge der Klimaerwärmung und anhaltender Pandemie(n) wird man immer mehr darauf angewiesen sein, das Leben virtuell zu genießen. COVID-19 hat schon gezeigt, wie die Verkaufszahlen von Videospielkonsolen in die Höhe steigen. Konzertsäle und Clubs: bekanntlich geschlossen. Und das bleibt wohl auch auf lange Sicht ein Bild, an das man sich gewöhnen muss. Daniel Rosenfeld alias C418 aus Chemnitz hat schon früh begonnen, seine Musik direkt für Videospiele zu komponieren, sprich für die Welt von Minecraft. Also einer Welt, die unserer schon ähnelt, nur halt digital. 2011 veröffentlichte er Minecraft Volume Alpha in Eigenregie, 2013 folgte Beta. Das fast 140-minütige Monstrum an Ideen, Einflüssen, Sounds, Gefühlen, Bildern und Eindrücken, die zu multiplen Formen und Landschaften gerinnen, erscheint nun – für’s Vinyl etwas gekürzt – auf Ghostly International. Die meisten dieser Nummern wurden bei Updates des Spiels hinzugefügt, manche allerdings sind nur auf dieser Veröffentlichung zu hören. Die Sammlung beginnt äußerst wundervoll mit „Ki”, einer dramatischen, sehr kurzen Sequenz, der man gerne noch länger gelauscht hätte. Man bewegt sich dann durch kleine Welten, die trotz aller Melancholie stets etwas Leichtes haben und gelegentlich auch etwas Rhythmisches wie „Haunt Muskie” (Hauntology inklusive), gänzlich Formloses wie „Warmth” oder auch Lustig-Jazziges wie „Stal”. Angenehm weird, farbenfroh. Man schwimmt durch wolkige Meere kaum glaublicher Kreativität, irgendwo angesiedelt zwischen Ambient, Downtempo, Minimal, und elektronischer Klassik. Zu Recht längst ein Klassiker. Lutz Vössing
Conrad Schnitzler – Con (Bureau B) [Reissue]
Präzise sein, ohne einer Form zu folgen: Conrad Schnitzler war, wie so viele Musiker, die sich in den späten 1960er Jahren im Berliner Zodiak Free Arts Lab herumtrieben, das Kind einer Generation, der die Narben der jüngeren Geschichte noch am Körper brannten. Einer Generation, die kein kulturelles Kontinuum befeuern wollte, das Mauern baut, statt sie zu zerstören. Schon als Mitglied von Tangerine Dream erkannte er die Grenzen der Innovation. Nur deshalb verließ er die Band bereits nach ihrem ersten Album Electronic Meditation. Als Do-It-Yourself-Solokünstler verschrieb er sich dann der elektronischen Klangforschung und der ihr innewohnenden Möglichkeit, Musik ohne vorgefertigte Form zu komponieren. Nach diversen DIY-Tape-Alben markierte die LP Con nicht nur ein reguläres Solo-Release auf dem französischen Label Egg. Es war auch eine echte Studioaufnahme, eingespielt am Korg-Synthesizer und EMS-Sequencer in Peter Baumanns Berliner Paragon Studio. Nun wird Con auf Bureau B erneut veröffentlicht, und sein elektronischer Collagen-Sound tut immer noch das, was er 1978 schon tat: überraschen, verstören, besänftigen, wachrütteln. Tracks wie „Zug”, „Metall II” oder „Black Nails” klingen wie in Sound gegossene Dokumente eines entfremdeten, großstädtischen Daseins, das dem Versprechen auf Vorsprung durch Technik ein nervöses, düster klingendes Spiegelbild vorhält. Industrial vor seiner Geburt. Eruptive, referenziell über die Musik hinaus wirkende Tape-Musik-Collagen, für die Schnitzler kein Studium am San Francisco Tape Music Center benötigte. Demgegenüber stehen Kompositionen wie „Electric Garden” und das namentlich an den Dada-Stummfilm Ballet Mécanique angelehnte „Ballet Statique”. Beide sind empfänglicher, experimentieren trotzdem, zeigen Schnitzlers Ursprung in der Berlin School und dokumentieren, wie der Experimentiergeist der 1970er gekoppelt an die instrumentalen Frequenzlandschaften analoger Synthesizer eine neue Musik für die Massen hätte sein können. Vorausgesetzt deren Sinne sind scharf und willig für Klänge jenseits des reinen Warencharakters. Konsequente Musik für unsichere Zeiten, die gespeist werden von der Hoffnung, Altes zugunsten einer noch zu formulierenden Zukunft zu verwerfen. Genau deshalb passt die Neuauflage von Con auch gut in unsere Zeit. Heute gilt es, die Chance des Stillstands zu nutzen. Für neue Horizonte, nicht einlösbare Utopien und Musik, der weder die Technik noch der Ort, an dem sie wirken soll, vorschreibt, wie sie zu klingen hat. Michael Leuffen
Disclosure – Energy (Universal)
Auf ihrem dritten Album Energy präsentiert uns das britische Duo Disclosure seinen Begriff von Energie: die elf Tracks strahlen vor Lebens- und Bewegungsfreude, zeichnen sich aber insbesondere durch einen dicken Firnis spätmoderner Lifestyle-Vibes aus. „Where your focus goes, your energy flows”, predigt Motivationscoach Eric Thomas im sambaesken Titeltrack und bringt damit die musikalische Synthese des Albums aus auf Effizienz getrimmter Performance und vitaler Leichtigkeit auf den Punkt. Jedenfalls sorgt die immer wieder vom bekannten Disclosure-Sound umspülte Hochglanz-Pop-Ästhetik noch lange nicht dafür, dass das Album gänzlich stumpf wirkt. Zwar bleiben organische, sensible und destruktive Aspekte von Energie ziemlich auf der Strecke, doch schafft Disclosures Life’s-Good-Attitüde immer wieder ansteckende Momente: „My High” zum Beispiel ist ein roher Hustler-Groove: die leicht verzerrte Bassline bricht teils in Drill-, teils ins Acid-Gebiete durch und zeigt, dass man die Engländer nicht so leicht festnageln kann. „Lavender” mit Channel Tres vereint French-House und Mr.-Worldwide-Vibes, während in „Douha (Mali Mali)” eine universelle Aufbruchsstimmung durch die Luft schwirrt. Die beiden Interludes bleiben der Album-Ästhetik treu, stellen jedoch entschleunigtere und musikalisch ausgefeiltere Produktionen dar. Dann klingt das Album ganz entspannt aus. Keine Revolution, aber auch keine Enttäuschung. Moritz Hoffmann
Harmonious Thelonious – Plong (Bureau B)
Als Harmonious Thelonious macht Stefan Schwander diese trockenen Perkussion-Schleifen. Eigentlich. Denn nun hat den Italic-Betreiber eine Anfrage des Hamburger Electronica-Labels Bureau B erreicht. Harmonious Thelonious passt da super hin. Und Schwander experimentierte zur Zeit der Anfrage gerade mit angefrästen Klängen, Industrial-Zeug. So ist es zu Plong gekommen. Und damit zu dem beschwerlicheren Weg zur Trance. Schwander macht es sich hier nicht leicht. Es ist ja ein Kunstgriff, Klänge des Industriezeitalters und damit einer Epoche destruktiver Kräfte einzubinden in ein – eigentlich die Magengrube und das somatische Dings rubbelndes – Panorama. Doch damit hat er Erfahrung. „Original Member Of A Wedding Band” hebt an mit einem Suspense, wie wir ihn auch von Schwanders Salon-des-Amateurs-Kollegen Kreidler kennen, und noch klingt bloß die Hi-Hat wie das Klöppeln eines Werkzeugmachers. „Höhlenmenschenmuziek” hat diesen weitläufigen Beat, der bereits die vorherigen Arbeiten von Harmonious Thelonious auszeichnete, und befreundet sich hier mit runtergepitchten Saiten, die als Bass-Spur dienen. Und wieder, wie schon zu Beginn, so cheap-mechanische Strings, Streicher, als würden sie in einer KFZ-Garage aus einem UKW-Radio herausströmen, einen schönen Schlager aufpeppend. So geht es weiter, die Marimba-Tupfer und anderes Angenehmes, dabei stets gebrochen von weit aufgerissenen Mikros, mechanischen und ungelenken Swing-Rhythmen sowie Zählzeiten, die unübersichtlicher wirken als im Footwork. Beginnt so das Alterswerk? Schönes Album. Christoph Braun
Kelly Lee Owens – Inner Song (Smalltown Supersound)
Wenn man nur eine CD im Autoradio hat, dann sollte diese mit Bedacht gewählt sein. Sie muss das ganze Gefühlsspektrum bedienen können, das man beim Fahren möglicherweise fühlt: Konzentration, Freude, Stress, Leichtigkeit. Kelly Lee Owens’ selbstbetiteltes Debütalbum hatte diese Qualität; Tür zu, Motor an, K.L.O., für immer on repeat. Die Messlatte, die die Britin damit setzte, war hoch und brachte ihr viel Lob und Bekanntheit ein. Drei Jahre später knüpft sie an diesen Sound an. Bubblige Synthesizer in kühlen Blau- und Grüntönen, pumpige, fast schon atzige House-Parts und ihre hohe, engelsmäßige Stimme – auf Inner Song ist all das wieder vorhanden. Aber Kelly Lee Owens ist in jede Richtung tiefer vorgestoßen, die Kontraste zwischen den einzelnen Tracks sind somit noch stärker. Poppiges wie „Re-Wild” und „On” mutet mit dem exzessiven Einsatz ihres Gesangs stellenweise wie ein Feenmärchen an. Das clubbige Fundament aber bleibt immer. Es kommt in Tracks wie dem eher stumpfen „Melt!” stärker zum Vorschein. Die perfekte Balance zwischen beiden Polen findet sich denn in nachdenklichen, aber dennoch vorwärts preschenden Stücken wie „Flow” oder „Jeanette”. Wäre was für die Open Air-Partys, die wir nicht feiern sollten. Oder eben das Auto – dort bleibt man immerhin im kleinen Kreis. Cristina Plett