Foto: Privat (Nation of Gondwana Backstage)
Die unabhängige Festival-Szene Brandenburgs ist ein Mischmasch aus elektronischer Musik, Alternativkultur und linkem, politischem Aktivismus, zu dem es weltweit kaum Vergleichbares gibt. Wo die Fusion auf Basisdemokratie setzt, wird die Nation of Gondwana schon seit 25 Jahren von zwei charismatischen Machern betrieben. Maximilian Fritz hat André Janizewski, Markus Ossevorth und sein Team am Wochenende vor dem Festival besucht, um das Erwachen dieses Biotops live mitzuerleben. Mit von der Partie: Feuerwehr, Heimatverein und Volkssolidarität Grünefeld aus dem Landkreis Nauen.
Ankunft in Nauen, etwa 45 Zugminuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Nur eine Handvoll Leute verlässt den Zug, der Parkplatz wirkt trist, ein AfD-Plakat begrüßt die Neuankömmlinge. Bei den Taxen wartet ein silberner VW T5 mit einem Aufkleber von Union Berlin in der Fensterscheibe – Punk, eh klar -, der mich zum Festivalgelände der Nation of Gondwana – benannt nach dem Urkontinent – im knapp 20 Kilometer entfernten Grünefeld bringt. Sagenumwoben und außerordentlich gut beleumundet ist das Festival, das in diesem Jahr seine 25. Ausgabe feiert. Nach gut 20 Minuten rollt der Kleinbus auf eine gigantische Lichtung, auf der sich relativ diffus erste Andeutungen von Bühnenkonstruktionen, Container und emsige Helfer verstreuen. Eine Rechtskurve später, es geht wieder in den Wald hinein, steige ich im Backstagebereich der Nation, der diesen prätentiösen Namen nicht wirklich verdient, aus dem Wagen. Vor einer Baracke mit verschiedensten Devotionalien, dem einzig befestigten Gebäude im gesamten Camp, sitzen Marc-André Janizewski und Markus Ossevorth, die Anführer der Pyonen. Der Name ist aus Frank Herberts „Der Wüstenplanet”, einem ausladenden Sci-Fi-Werk, an dessen Verfilmung selbst David Lynch grandios scheiterte, entlehnt und beschreibt die darin vorkommenden Tagelöhner. In ihren spartanischen Campingstühlen wirken die beiden von der ersten Sekunde an nicht wie autoritäre Taktgeber des Aufbaus, sondern legen eine Gelassenheit an den Tag, die die Erfahrung aus einem Vierteljahrhundert Organisation wohl mit sich bringt. „Essen gab es gerade, in der Kantine ist aber sicher noch was zu holen”, meint André.
Nach dem Verzehr eines veganen Gulaschs dann der erste Rundgang: Für ein Festival mit 8000 Besuchern wirkt der Aufbau der Nation wundersam familiär. Catering und Produktion verwalten jeweils einen Container, Handwerker sägen und schleifen Bars zum dürftigen Sound einiger Bluetooth-Boxen zurecht und das Dekorationsteam kümmert sich in Seenähe um das optische Erscheinungsbild, für das die Nation wohl ebenso bekannt ist wie für die dargebotene Musik. Alles geschieht auf wenige hundert Quadratmeter konzentriert, Nähe erleichtert die Kommunikation und das Miteinander. Das Jubiläum der Nation ruft weitere Pressevertreter auf den Plan. Ein Kamerateam der Öffentlich-rechtlichen erklärt André, dass noch Aufnahmen von der Einteilung des Geländes anstehen, bevor die Sonne untergeht. Nach einer kurzen Dusche begibt er sich mit Aufbau-Chef Marcin dafür auf den Acker, hantiert in rosa Joy Division-Hoodie und grüner Jogginghose mit Karte und Maßband und kommt den Wünschen der Regisseurin ohne Murren nach. Die Bilder entstehen nicht ohne gewissen Zeitdruck; in einer Stunde wird die Grünefelder Feuerwehr zum jährlichen Umtrunk mit inbegriffenem Freiluftkegeln erwartet, bis zur Ankunft der Gäste gibt es noch Vorbereitungen zu treffen.
Während André mich für dieses unübliche Event brieft, fällt mir im Hintergrund eine weiße, Pavillon-artige Konstruktion ins Auge, die fünf Leute gerade aufbauen. Was das ist? „Der Gianni-Baum“, antwortet er lakonisch. Dieses spezielle Wahrzeichen der Nation of Gondwana erinnert an den 2009 nach einem Gig im Ritter Butzke verstorbenen Gianni Vitiello, der die Pyonen als DJ und Freund viele Jahre lang begleitete. „Während des Festivals versammeln sich immer wieder Besucher um den Baum und fragen nach seiner Bedeutung. Giannis Mutter, die meist in der Nähe ist, erklärt ihnen dann, dass der Baum an ihren Sohn erinnert.” Diese gelebte Erinnerungskultur scheint typisch für die Organisatoren, die das Festival konsequent mit einer persönlichen Note ausstatten. Das untermauert auch Andrés Lageplan: Sämtliche Wege auf dem Gelände sind unkonventionell nach DJs oder sonstigen Spezifika benannt: DJ Marcus Weg, Andrenalin Straße, Bimmelbahnhof, Gianni Vitiello Allee, Dritte Raum Straße. Andreas Krügers Musikprojekt fungierte für die Nation ohnehin als Grundstein, wenn auch unfreiwillig. Tausendmal erzählten André und Markus bereits, dass sie 1994 während der Loveparade nicht in den legendären Mitte-Club Eimer kamen, wo Der Dritte Raum spielte. Daraufhin beschlossen sie kurzerhand, ihr eigenes Festival zu gründen. Inklusivität vor Exklusivität also, ein konzertiertes Miteinander ohne „blöd vor der Tür rumzustehen“, wie André es nennt.
Die AfD schürt Angst
Nachdem sie Pläne, eine Party im SEZ an der Landsberger Allee, einem ehemaligen DDR-Freizeitkomplex, mit zu veranstalten, wegen „hoch dubioser Leute” im letzten Moment verwarfen, brauchten sie dringend eine Location. Das Booking stand schließlich schon. So telefonierten beide die Ämter ab und wurden schließlich fündig: Zuerst bezog man einen Acker bei Altlandsberg, ab 1999 die heutige Heimat Grünefeld. Wegen Lärmbelästigung 2002 musste die Nation im Folgejahr aber weichen, was zum missratenen Ausflug nach Dammsmühle führte. „Da haben wir ein Ding in den Sand gesetzt, das obendrein noch die Polizei geräumt hat”, schüttelt André den Kopf. „Das war das einzige Mal, dass wir dachten: ‚Nächstes Jahr ist Sense.‘“ Eine Entwicklung, die im Festivalkosmos denkbar untypisch wirkt, verhinderte das. „Die Leute und vor allen Dingen die Gemeinde in Grünefeld haben festgestellt, dass es ohne Nation doch eigentlich doof war. Die sind dann auf uns zugekommen und haben gefragt, ob wir’s nicht wieder hier machen wollen.“, sagt Markus. Die Beziehung zwischen der Nation of Gondwana und dem 450 Einwohner-Dörfchen Grünefeld ist zweifelsohne eine besondere. „Das läuft total auf Augenhöhe. Es ist nicht unser Anspruch, denen die Welt erklären zu wollen und es ist nicht deren Anspruch, uns die Welt erklären zu wollen. Wir wollen was von denen, die wollen was von uns. Das ist ein Geben und Nehmen.”, bricht André sie zunächst nüchtern herunter. Mit einer bloßen Übereinkunft ist es aber nicht getan: Über ein Viertel der Bewohner arbeitet am Grill- und Verpflegungsstand der Nation. Dazu kommt die reguläre Feuerwehr und eine Kooperation zwischen dem Berliner Kollektiv Who’s That Girl und Jugendlichen aus der Gemeinde, die zusammen den Birke-Floor kuratieren. „Als wir hier angefangen haben, waren das noch Kinder. Die sind mit uns groß und Hobby-DJs geworden.”, äußert André vergnügt.
„Wir sind die Liebe und sie sind der Hass.”
Außerdem gibt es noch den obligatorischen Grünefelder Frauenchor, der seit vier oder fünf Jahren samstags die Eröffnung singt. „Kirchenchor!”, korrigiert Markus. „Es ist ein Kirchenchor, der nur aus Frauen besteht.” Ob die einen Schimmer hätten, was hier passiert? „Natürlich, die arbeiten ja alle hier.”, entgegnet André. Passt das Treiben auf der Nation denn mit kirchlichen Maßstäben zusammen? „Wieso nicht?”, kontert Markus, „Jesus hat jeden Tag Wein getrunken!”, meint André. Alle gingen hier respekt- und liebevoll miteinander um, im Endeffekt passe das sehr gut. Das sei doch eigentlich genau das Bild, was die sich im Endstadium vorstellen. Harmonie? „Harmonie.” Eine deutlich unharmonischere Begleiterscheinung der Nation, besonders in den frühen Jahren, stellen Übergriffe von Rechts dar. Leute kamen mit dem Kofferraum voller NPD-Plakate, die sie hier verteilen wollten, das Festival selbst sei auch schon angegriffen worden: „In den anfänglichen Jahren liefen hier teilweise über hundert Nazis auf, das war eine Riesenmeute.” Es kam zu Auseinandersetzungen. Auch den See wollten sich Rechte mal zueigen machen, das sei aber auch bei den Grünefeldern auf Ablehnung gestoßen. Das vorerst letzte Kapitel dieses fortwährenden Kampfs spielte sich im letzten Jahr im Kulturausschuss des Potsdamer Landtags ab. Andreas Kalbitz, Fraktionsvorsitzender der AfD Brandenburg und Zugehöriger völkischer Gruppierungen, und sein Referent stellten eine Kleine Anfrage zu Straftaten während des Festivals. „Es ist halt einfach eine Taktik der AfD, Leute zu verunsichern. Das erleben wir ja auch im Theaterbereich. Das ist einfach billiger Scheiß. Es ist deren Methode, Angst zu schüren. So machen die Politik.”, redet sich Markus in Rage, nicht ohne die Fronten unmissverständlich zu klären: „Wir sind die Liebe und sie sind der Hass.” Der Versuch, die Nation zu kriminalisieren, scheiterte krachend: Nennenswerte Straftaten gingen von Rechts aus, ergab die Kleine Anfrage, die Nation sei ein Musterbeispiel für Kommunikation, Korrespondenz und Transparenz.
Loveparade in Grünefeld
Am frühen Abend treffen dann nach und nach die Mitglieder der Feuerwehr Grünefeld ein, die vielbeschworene Einigkeit, die das Aufeinandertreffen von Alternativen und Dorfbewohnern bestimmt, wird zum ersten Mal erlebbar. Und in der Tat: Der Umgang miteinander hat nichts Aufgesetztes an sich, man kennt sich seit Jahren, ist zusammen am Nukleus Nation of Gondwana gewachsen. Der gemeinsame Grillabend mit anschließendem Freiluftkegeln, ganz DDR-like, wirkt weniger wie ein halbgarer Appeasement-Versuch seitens der Veranstalter, als vielmehr wie ein unabdingbares Ritual. Man stimmt sich ein letztes Mal für ein Wochenende im Ausnahmezustand ein. Grünefeld wird von einer Besuchermenge geflutet werden, die die reguläre Einwohnerzahl um über das 16-Fache übersteigt. Während und nach der ausgelassenen Kegelpartie, welche die Pyonen – wie offenbar jedes Jahr – verlieren, feuert man sich in kumpeliger wie bierseliger Atmosphäre einen Kalauer nach dem anderen um die Ohren. Gleichzeitig tauschen sich André, Markus und die Feuerwehrleute über letzte organisatorische Details aus. „Passt mir mit offenem Feuer im Wald auf, da haben letztens Angler was in der Richtung gemacht.”, informiert sie ein mit allen Wassern gewaschener Feuerwehrmann während unseres Interviews. Die beiden zeigen sich dankbar für jeden Tipp, werden nicht müde zu betonen, wie wichtig die unentwegte Kommunikation mit Behörden, Anwohnern, Besuchern und nicht zuletzt den eigenen Mitarbeitern ihnen ist. „Gibt ja auch so ein zweigeteiltes Backstage auf vielen Festivals. Hier die Orga, da die Crew. Die Orga ist dann abends Fleisch, die Crew Nudeln mit Tomatensauce. (…) Entweder alle oder keiner, das ist unser Konzept.” In der Tat stellen sich auch die beiden Chefs in der Warteschlange fürs Essen hinten an, jeder wäscht sein Geschirr selbst ab. Das klingt vielleicht erstmal nicht weltbewegend, erzeugt aber in Anbetracht eines so durchprofessionalisierten Marktes wie dem der Festivals schon beinahe ein Kommunen-Gefühl.
„Unter einem der Tische döst ein Hund, von seinem Frauchen stilecht ‚Acid’ getauft.”
Als die Feuerwehr spätabends abreist – von Teenagern, die mit Tickets versorgt wurden, bis hin zum 80-jährigen Urgestein waren alle Altersklassen vertreten -, lässt die Crew den Abend behutsam ausklingen, das eben Geschehene mit weiteren Erfrischungen im Camp Revue passieren. Inzwischen regnet es, die Biertischgarnituren am Catering-Stand bleiben aber besetzt. Unter einem der Tische döst ein Hund, von seinem Frauchen stilecht ‚Acid‘ getauft. Was nur als einer von vielen Impulsen zu der Frage führt, ob die Nation denn ein Hippie-Festival sei. „Ja, ganz klares Ja.“, antwortet André und lacht dabei schallend. „Da braucht man nicht drüber zu streiten. Es kommen viele Hippies und selbst normale Gäste versuchen, sich für ein Wochenende wie Hippies zu benehmen.” Dabei kommt André selbst zuvorderst aus dem Punk, was er in sein Booking mit einfließen lässt: „Ich mag es, wenn es Samstagnacht richtig knallt. Das Festival ist aus einer Punk-Denke heraus entstanden. Als ich jung war, gab es noch gar keinen Techno, deswegen habe ich da viel Punk gehört.” Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Musikrichtungen bringt er markant auf den Punkt: „Sau rauslassen! Es ist durchaus schnelleres Tanzen angesagt, nicht so ein Rumgeschwoofe.” Ob es musikalische Grenzen gebe, die nicht überschritten werden dürften? EDM käme ihm als Booker – Markus kümmert sich primär ums Logistische und hört gar keinen Techno – aber nicht ins Haus. „Find ich einfach scheiße und geht mir fürchterlich auf die Nerven. Das ist keine schöne Musik, so übermäßig melodisch.” Das goutiert auch das Publikum, das bestimmt ein höheres Durchschnittsalter hat als auf anderen Techno-Festivals. Viele der Besucher kämen seit 20 Jahren, wuchsen wie viele der Dorfbewohner mit der Nation auf. Viele hätten sie zum Stammfestival auserkoren. Zwischen 35 und 45 sei der Großteil des Publikums, auch Sechzigjährige seien aber keine nennenswerte Ausnahme.
Es fällt schwer, zu beschreiben, was die Faszination der Nation of Gondwana ausmacht. Immer wieder drängt sich eine Wortwolke aus hippiesken Begriffen auf: Idealismus, Liebe, Gemeinschaft, Harmonie. Besonders daran scheint aber zu sein, dass sich dieses engmaschige Netz aus Solidaritätsbekundungen nicht bloß auf den eigenen Festivalkosmos als solches beschränkt. Ämter, Gemeinde, die Anwohner Grünefelds und auch die Polizei kooperieren mit den Pyonen ohne ernsthafte Reibungspunkte. „Anfangs war das Feedback der Grünefelder ja auch so, dass sie meinten: Es ist besser, wenn die Loveparade zu uns kommt, als wenn wir unsere Kinder nach Berlin schicken und wir nicht wissen, was die da machen.”, erzählt André: “Das ist unser Kosmos, hier kennen wir uns aus, hier haben wir kein Problem, wenn die Kinder feiern gehen. In Berlin machen wir uns Sorgen. Irgendwann war die Loveparade dann nicht mehr da, aber wir waren noch da. Wir haben von Anfang an den Jugendclub unterstützt, der Kita und der Kirche Geld gegeben, und es gibt den großen Förderverein der Feuerwehr, die hier jedes Jahr einen Stand machen. Zusammen mit der Volkssolidarität, dem Heimatverein. Das ist ein Dorf mit 450 Einwohnern, von denen 120 bei der Nation am Grillstand arbeiten – nur an dem Stand, wohlgemerkt.”