Glück und Angst, ihre Fabrikation und ihre Vermeidung sind große Themen dieser Tage. Schönheit zulassen heißt mit der Angst umgehen, in die Stille investieren bedeutet sie aktiv zu meiden. Sind mit Ruhe und Anmut getönte Electronica und Ambient also tröstliches Seelenbalsam für das saturierte westliche Wohlstandsbürgertum? Die Antwort ist wohl Ja wie auch Nein. Akustische Anmutungen von Geborgenheit und menschlicher Wärme bedeuten nicht, dass sich die hier verhandelten Musiken nicht mit aller Kraft gegen den Konsens, gegen die allgegenwärtigen Abstumpfungseffekte in Kultur und Lebenswelt stemmen würden. So kann sogar die Begleitmusik zu einem Yoga-Festival zu einem subversiven Fanal werden, insbesondere wenn es von Will Long alias Celer stammt. Dezentere, schweigsamere Klänge als die Live-Improvisation Akagi (Two Acorns) lassen sich schwer vorstellen. Über siebzig Minuten passiert praktisch nichts, und bewegt sich doch alles. Fraktale Schleifen, iterative Wiederholungen immer ähnlich, nie gleich. Eine Schule der Aufmerksamkeit wie der Abwesenheit.
Stream: Celer – Akagi
Eine ähnlich radikale Diskretion zeichnet das aus den Trümmern der Bay Area Postpunk Szene auferstandene The Balustrade Ensemble aus. Renewed Brilliance (Serein) unterzieht schwelgerische aber nie sentimentale Neoklassik einer an Ambient und Soundart geschulten Klangverflüssigung. Erstaunlich und toll wie eine siebenköpfige Combo so leise, so wenig aggressiv und dabei doch raumgreifend sein kann.
Stream: The Balustrade Ensemble – Renewed Brillance
Sara Hausenkamp, schwedische Berlinerin, die sich nach dem erdähnlichen extrasolaren Planeten 55 Cancri e benannt hat, schafft cineastisch glänzende Opulenz aus wenig mehr als einer akustischen Gitarre und einem Bedroom-Studiosetup. Belsebubs Tårar (Music For Dreams), ihre Night Music from Outer Space ist eines der wundervollsten und doch leider weithin übersehenen Kleinode des vergangenen Jahres.
Stream: 55 Cancri e – Belsebubs Tårar
John-Kyle Mohr alias Anenon destilliert ganze Ambient-Ozeane aus einem weichen, cooljazzigen Saxofon in digitaler Verschleifung. Weniger streng als die Musik des ähnlich arbeitenden Laptop-Rockabilly Outlaws Dirty Beaches liefert Petrol (Friends of Friends) einen trotz mancher hektischer IDM-Beats tiefenentspannten Soundtrack zu langen Autofahrten in der Noir-Dunkelheit von Mohrs Homebase Los Angeles.
Stream: Anenon – Petrol
Der Argentinier Federico Durand versteht es meisterlich leichtherzige Nostalgie zu produzieren ohne dabei sentimental zu werden. Auf A Través Del Espejo (12K), seiner Reise hinter den Spiegeln, finden heller Saiten-Twang und digital verdichtete Glockenspielklänge mit naturbelassenen Field-Recordings in unbeschwerter Schönheit zusammen.
Stream: Federico Durand – A Través Del Espejo
Die Klangquellen der Pariserin Berangère Maximin befinden sich in eher ungemütlicheren Gefilden von Drone, rhythmisiertem Noise und Power Electronics. Dennoch ist Dangerous Orbits (Made To Measure) ein ganz leicht zugängliches, ja im konventionellen Sinne angenehmes Album, das immer wieder aufs Neue vorführt wie wenig einzelne schmutzige Klangmoleküle über das erhabene große Ganze auszusagen wissen.
Stream: Berangère Maximin – Dangerous Orbits
Das immer schwebend gehaltene Verhältnis der Fragmente zur Totale spielt auf Aphelion (Ipek Gorgun/Bandcamp) von Ipek Gorgun aus Istanbul eine ähnlich entscheidende Rolle. Ihre Klangmoleküle interagieren jenseits jeglicher Sicherheiten in einer harschen elektroakustischen Welt.
Stream: Ipek Gorgun – Aphelion
Ein Sinnzusammenhang den auch die in diversen improvisierenden, neumusikalischen und experimentellen Ensembles agierende Wienerin Maja Osojnik originell zu nutzen versteht. Ihr Debüt Let Them Grow (Unrecords) verfremdet halbwegs eingängige Chansons und Folksongs mit teils heftiger elektroakustischem Sounddesign zu einer Art radikalem und heftigen Kammer-Pop.
Video: Maja Osojnik – Let Them Grow
Die Berliner Grey und Fehler Kuti alias 1115 setzen auf ihrer langen EP (oder kurzen LP) The Drowned World (Alien Transistor) auf einen analogen Verfremdungseffekt. Die Basis ihrer nur halbironischen instrumentalen Kommentare zu Afrobeat und Glitch-Hop sind improvisierte Tapeloops und Percussion.
Stream: 1115 – The Drowned World
Saroos stellen so etwas wie den kreativen Querschnitt diverser ehemals Weilheimer Indie-Bands dar. Auf dem vierten Album Tardis (Alien Transistor) wärmen sie ihren hypnotischen Instrumentalrock an krautigen Modularsynthesizerklängen. Ihr derart verfeinerter und emotional intensivierter Sound weist neue Wege, zeigt wie viel im abgegrast geglaubten Postrockgenre zwischen Stereolab, Kreidler und The Notwist noch geht.
Stream: Saroos – Tardis
Die mit Saroos teilidentischen Driftmachine vertiefen auf Eis Heauton (Hallow Ground) den im Bandformat skizzierten introvertierten analogen Space-Dub zu einer – wie im altgriechischen Titel angedeutet – selbstgenügsamen kosmischen Maschinenmusik. Nach einem Kassetten-Release im vergangenen Jahr erscheint das Album nun auch auf Vinyl.
Stream: Driftmachine – Eis Heauton
Ein offenes Betriebsgeheimnis der allseits beliebten Neoklassik ist, dass meist eher schlichte kleine Popmelodien auf akustischen Instrumenten mit hohem technischem Einsatz zu High-End Genusswaren veredelt werden. Die bewusste Reduktion auf eine Duobesetzung kann Zeichen gegen derartige hochpreisige Kulinarik setzen. So ziehen die einfach gehaltenen Elegien von Dakota Suite & Emanuele Errante auf The North Green Down (Karaoke Kalk) ihren Charme und ihre tief melancholische Wirkung gerade aus der intimen, zurückhaltenden Interaktion von Cello und Gitarre. Der Verzicht auf orchestrale Opulenz macht sie erst stark.
Stream: Dakota Suite & Emmanuele Errante – The North Green Down
Bei Tobias Preisig & Stefan Rusconi geht es sachlich und modernistisch zu. Levitation (Qilin) experimentiert entlang der ungewöhnlichen Kombination von Kirchenorgel und einer perkussiv quietschend kratzigen Violine. Lichte Improvisationen, die in einem größeren Rahmen wohl kaum so anschaulich gelungen wären.
Stream: Tobias Preisig & Stefan Rusconi – Levitation
Das französische Duo Keda kombiniert auf Hwal (Parenthèses) das traditionelle koreanische Saiteninstrument Geomungo mit zeitgenössisher Glitch-Elektronik. Für E’Joung-Ju und Mathias Delplanque ist die Klarheit und Trennschärfe der einzelnen Klangbausteine der Weg aus der neoklassischen Gefälligkeitsfalle.
Stream: Keda – Hwal
Die Musik des klassischen Komponisten und in den 1960er Jahren als „Viking of Wall Street“ bekannten blinden Straßenmusikers Moondog war über so kleinliche Fragen wie die der einfachen Konsumierbarkeit seiner Musik immer weit erhaben. Seine Songs waren immer eingängig und poppig, dabei doch so raffiniert und elaboriert wie jede Bach-Kantate. Seine Musik war immer so existentiell und eigenwillig, dass sich die Frage nach Crossover, Peergroups oder Outsider-Kunst immer verbat. Die französische Band Cabarat Contemporain, die sich schon ziemlich gelungen an Coverversionen der Minimal Music Terry Rileys versucht haben, stellen die Musik Moondogs in einen aufwendigen instrumentalen Rahmen und mit den schwedischen Sängerinnen Linda Oláh und Isabel Sörling Moondog (Sub Rosa) in einen dezidierten Pop-Kontext. Das klingt, dank der heliumhohen Stimmen der Sängerinnen, manchmal nach den opulenten Artpop-Welten Joanna Newsoms bleibt aber doch ganz und gar in der exzentrischen Welt Moondogs verfangen.
Video: Cabaret Contemporain, Linda Oláh & Isabel Sörling – Hommage à Moondog live