Wenn man eine Mix-CD das erste Mal in den Händen hält, gilt der erste Blick meist der Trackliste auf der Rückseite: Welche Zutaten wurden in welcher Reihenfolge verwendet? Kann man kennermäßig abnicken? Wird einem der Mund wässrig? Oder gibt es schnöde Geschmacksverstärker? Fast Food sogar? Oder kann Haute Cuisine für die Ohren erwarten?
Nina Kraviz hat für ihren DJ Kicks-Beitrag insgesamt 29 Tracks gelistet und schon ein kurzes Überfliegen macht hungrig: das Intro ist ein Acapella von Egotrips „Dreamworld“, ein Track der auch von Warps IDM-Techno-Hybrid B12 stammen könnte und wohl das ungewöhnlichste Release von Roger Sanchez sein dürfte. Gleich darauf folgt „Mystery“ von Nina Kraviz, es ist der traditionell exklusive Track für die DJ Kicks-Reihe und gibt mit seiner trippigen Grundstimmung und dem fieberwandelnden Geflüster die weitere Richtung vor. Es geht zum dunkelsten Punkt der Nacht, an dem sich die letzte Energie des vergangenen Tages ganz langsam mit der frischen und unverbrauchten Euphorie des anbrechenden Tages vermischt.
Wer ist noch anzutreffen? Aphex Twin als Polygon Window und Terrence Dixon als Population One, Plaid, Baby Ford und Goldie feat. David Bowie. Außerdem unverbrauchte Newcomer wie Parrish Smith, Area, Nikita Zabelin oder Bjarki. Verdiente Veteranen aus dem Westen und hoffnungsvolle Talente aus dem Ostblock sind nahtlos ineinander gemixt, die gesamte Welt wird ein Technoclub. Aber es ist nicht nur der Raum, der komprimiert wird: Viele Tracks haben um die zehn Jahre auf dem Buckel, manche stammen aus den Neunzigern. Fast die Hälfte der Tracks sind dabei von ihrem eigenen Label трип (sprich „Trip“) übernommen, welches seit Anfang Dezember offiziell existiert. Man könnte den ganzen Mix als schamlose Eigenwerbung oder gelungenen Promo-Stunt abtun, da die Stimmung des Mixes exakt die Labelphilosophie widerspiegelt. Das Timing könnte jedenfalls besser nicht sein. Abgesehen davon ist es jedoch ein perfekter Rutsch von Acid House zu trippigem Techno zu Exit-Electronica à la dBridge. Nach fast 20 Jahren ist die DJ Kicks-Reihe dank solcher Beiträge immer noch relevant und Nina Kraviz bewegt sich nun auf Augenhöhe mit Künstlern wie Carl Craig, Kode9, Four Tet, Erlend Øye und Kemistry & Storm.
Stream: Nina Kraviz – IMPRV