Text: Tobias Staab
Erstmals erschienen in Groove 142 (Mai/Juni 2013)
Irgendwo in den grünen Hügeln Englands zwischen Windmühlen und unter blassem Sonnenschein lebt James Holden das zurückgezogene Leben eines erwachsen gewordenen Wunderkindes. Als DJ, der unmixbare Stücke nach Tonlage zusammenmixt, hat er sich einen Ausnahmestatus irgendwo zwischen Techniknerd, Trance-Mozart und Elfenwesen erarbeitet. Für sein neues Album bastelte sich der vielleicht sympathischste Sonderling der Clubwelt nun retrofuturistische Chaosmaschinen zusammen, aus denen er Dronewelten für die Zukunft leiert, die jeder Form spotten. Im Gespräch berichtet er über die Entstehung von The Inheritors, von der programmatischen Naivität seines mittlerweile zehn Jahre alten Labels Border Community und von der Wichtigkeit eines erweiterten Trance-Begriffs.
Musikjournalisten behaupten oft, das zweite Album sei das Schwierigste. Kannst du das bestätigen?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe The Idiots Are Winning nie wirklich als Album angesehen. Da ging es mehr um ein paar Stücke, die ich irgendwie zusammengebracht habe. Wir haben es dann schließlich auch mit all den Tools und seltsamen Extras herausgebracht. Das hier dagegen ist das Album, das ich mir bereits als Teenager immer gewünscht habe zu machen. Das große Statement. Und deshalb ist The Inheritors mein erstes Album. Egal ob man das nun als korrekt ansieht oder nicht.
Als du mit der Arbeit an dem Album begonnen hast, hattest du da im Hinblick auf die Soundästhetik bereits eine konkrete Idee vor Augen?
Ich würde wohl nicht von einer konkreten Idee sprechen, eher von einem intuitiven Gefühl. Ich wollte forschen und experimentieren und sehen in welche Richtung mich das führt. Ich hatte auch keine bestimmten Methoden festgelegt. Ich denke, meine Entwicklung zwischen The Idiots und jetzt lässt sich ganz gut an den Remixen, die ich in der Zwischenzeit gemacht habe, ablesen. Ich habe versucht, etwas Neues, etwas Anderes zu machen.
In welcher Weise anders?
Ich hatte genug von digitalen Produktionsweisen. Wenn ich mir diese Musik anhöre, erscheint mir alles, was passiert, zu offensichtlich. Man hört klar die Loops und die Repeats. Man kann über die gesamte Länge des Tracks genau nachvollziehen, was der Produzent gebaut hat. Das ist einfach zu simpel, zu eindimensional und letztlich zu leicht dekonstruierbar. Ich fühlte mich beim Anhören solcher Musik zusehends gelangweilt und entschied, ich müsste neue Wege finden, um genau in die entgegengesetzte Richtung zu arbeiten.
Ich wollte eine Produktionsweise entwickeln, die ähnlich funktioniert wie eine Band, die miteinander kommuniziert und bei der jeder auf den anderen hören muss. Die Sache ist nur, ich habe keine Band, weil ich möglicherweise nicht genug Freunde habe. (lacht) Also habe ich ein Jahr meines Lebens damit verschwendet, einen Hybriden zwischen einem Modular-Synth und dem Computer zu entwickeln, wobei eine Vielzahl von generativen Prozessen entsteht. Man kann das nicht einfach als MIDI-Signal oder als Partitur transkribieren.
Meine Idee war es, durch das Bauen einer solchen Chaosmaschine das Gefühl für eine Musik zu entwickeln, die meinen Ansprüchen in Sachen Komplexität und Detailreichtum genügt. Wenn du eine solche Maschine baust, ist das dein Instrument. Das funktioniert allerdings immer nur für eine Nacht. Denn sobald ich die Maschine abschalte und zu Bett gehe, finde ich am nächsten Morgen eine völlig neue Situation vor, nur weil sich beispielsweise die Temperatur geändert hat. Es ist so, als ob ich die großartigste Violine meines Lebens gebaut hätte, aber ich habe nur Zeit, einen einzigen Song in diesem einzigen Moment darauf zu spielen. Ich bin wirklich stolz darauf, eine Maschine entwickelt zu haben, die als ausdrucksstarkes Instrument funktioniert. Ich habe alle Stücke des Albums im Zuge von Livetakes erzeugt. Sie sind also wirklich passiert. Es gab diesen Moment. Darum ging es mir bei diesem Album vor allem.
Stream: Holden – Gone Feral
Du hast von Chaos gesprochen. Bist du in der Lage, dieses Chaos zu kontrollieren? Könntest du etwa einen Song, den du einmal aufgenommen hast, wieder reproduzieren?
Ich könnte niemals einen dieser Songs zweimal in gleicher Weise spielen, was wohl auch der Grund dafür ist, dass ich die Stücke nie live spielen werde. Das ist wie bei dem Schmetterling, der mit einem Flügelschlag einen Sturm auslösen kann: Der winzigste Fehler im Setting sorgt dafür, dass nichts mehr so klingt wie zuvor. Ich habe nach meiner Erfahrung im Caribou Vibration Ensemble durchaus Lust, weiterhin live zu spielen. Allerdings kommt das für dieses Album nicht mal als Option infrage. Ich müsste wohl noch weiter an diesen Maschinen schrauben, damit ich mich mehr auf sie verlassen kann.
Sprechen wir über den Titel des Albums. Von welchem Erbe sprichst du eigentlich?
Der Titel geht auf das gleichnamige Buch von William Golding zurück. Es erzählt aus der Perspektive eines Neandertalers, der die Ankunft der ersten Menschen miterlebt, während sein eigener Stamm ausstirbt. Es geht darum, wie traurig, brutal und unausweichlich darwinistische Entwicklungen verlaufen. Gute Ideen werden von erfolgreicheren, jedoch nicht notwendigerweise besseren abgelöst. Die Parallelen zur Musik muss ich jetzt nicht wirklich erklären, oder?
Siehst du dich selbst als Erben einer bestimmten musikalischen Tradition?
Vor ein paar Jahren habe ich Julian Copes Buch Krautrocksampler gelesen. Diese deutschen Musiker, die auf der Suche nach einer nationalen Identität waren, während sie sich einer scheinbar übermächtigen angloamerikanischen Tradition gegenüber sahen, haben mich sehr berührt. Auf eine Art sehe ich mich auch als so jemanden, der nach einem englischen Wesen sucht, nach einer englischen Sinnlichkeit, die ich dann in Folk Music oder The KLF finde. Die Platte trägt in der Tat viel von der Vergangenheit in sich – der Sound, die Methode, das ganze analoge Zeug – vielleicht habe ich mich in den vergangenen Jahren wirklich in eine antimoderne Richtung entwickelt. (lacht)
Wie stehst du den Avantgarden der elektronischen Musik, etwa den Serialisten, gegenüber?
Stockhausen und Xenakis sind für mich im Hinblick auf ihre Einstellung und auf das Neue, das sie schufen, schon interessant. Allerdings sind die Minimalisten, die ihnen nachfolgten und sich wiederum völlig gegen sie wandten, noch spannender für mich. Deren Musik zielt auf bestimmte Reaktionen im Gehirn, ganz besonders bei Terry Riley, der gewissermaßen Trance erfunden hat. Aber die Haltung der Neuen Musik gegenüber musikalischen Traditionen begeistert mich natürlich.
Das Zerbrechen der Form?
Ja. Ich bekomme gerade die ersten Rückmeldungen zu meinem neuen Album und ich freue mich immer auch über verärgerte Reaktionen, weil die Leute dadurch vielleicht gezwungen werden, sich noch einmal anders damit auseinanderzusetzen.
Was bedeutet Trance für dich?
Trance Music verändert den Zustand des Gehirns. Sie hypnotisiert dich und zieht dich in ein Gefühl hinein. Sie hat meist etwas Repetitives, doch irgendwann hört man auf, darauf zu hören, was passiert, und man realisiert nur noch die Veränderungen, die dabei ablaufen. Die einzige Musiktradition, bei der diese Perspektive völlig fehlt, ist die der westlichen klassischen Musik. Fast alle anderen Weltmusikformen gehen auf repetitive Strukturen zurück, die Zustandsveränderungen im Gehirn bewirken. Trance ist ein zu großer Begriff, als dass er für die allzu enge Vorstellung eines Musikstils verschwendet werden dürfte, mit dem ihn die meisten Leute derzeit assoziieren.
„Trance ist ein zu großer Begriff, als dass er für die allzu enge Vorstellung eines Musikstils verschwendet werden dürfte.“
Dance Music steht ja bereits dem Namen nach im Dienste einer Funktion, sie verlangt einen gewissen körperlichen Effekt. Hat sich deine Musik von dieser Funktion befreit?
Ich empfinde die meisten Stücke des Albums durchaus als Dance Music. Das Problem ist doch, dass Dance Music sich immer mehr einem Maximum an Funktionalität annähern muss, weil die meisten DJs Pussys sind, deren größte Angst es ist, einen Fehler zu machen. Das ist eine Entwicklung nach unten, parallel zu den Produktionsweisen, über die wir sprachen. Bei meinem Album gibt es ja auch viele Dinge, wie die hypnotischen Loops oder die Einfachheit in der Struktur vieler Songs, die es zu Dance Music machen. Für mich jedenfalls.
Was möchtest du beim Hörer gerne bewirken?
Ich habe diese Erinnerung an meine Zeit als Teenager, wenn ich manche Dinge zum ersten Mal gehört habe, die mehr waren als nur Platten, sondern wirklich neue Perspektiven auf die Welt gaben und neue Verbindungen schafften. So wie ein Kind, das in seinem Kleiderschrank plötzlich den Eingang zu einem magischen Königreich entdeckt. Ich würde mir wünschen, dass das Album für manche Menschen diese Wirkung hat.
Stream: Holden – Renata
Auch als DJ hast du durchaus einige Veränderungen mitgemacht – stilistisch, aber auch im Hinblick auf dein technisches Equipment. Wie würdest du deine musikalische Entwicklung als DJ beschreiben?
Ich kann mich noch an einen meiner ersten DJ-Gigs erinnern. Es war ein schrecklicher Rave in einer schrecklichen Venue im Norden Englands, wo die Mädels Fellboots trugen. Damals habe ich, leider ohne die entsprechenden DJ-Skills, versucht, die Stücke, die ich mochte, in einem Mix zu verbinden. Also etwa eine beatlose Arpeggio-Nummer von Boards Of Canada, auf die ein Technotrack folgen sollte. Irgendwann kletterte ein Mädchen auf die Bühne und rief: „Du bist scheiße! Lass lieber mich auflegen!“ Es war wirklich der schlimmste Gig meines Lebens. Ich wusste damals schon in etwa, wohin ich musikalisch wollte, nur musste ich lernen, dass man den Leuten so etwas nicht direkt vor den Kopf knallt, sondern es ihnen versteckt unterjubeln muss. Seitdem habe ich viel über Musik herausgefunden und an meinen technischen Fähigkeiten gearbeitet, sodass ich jetzt mit dem, was ich spielen möchte, auch bei den Leuten davonkomme. Ich genieße es total, afrikanische Platten oder Stücke aus den Siebzigern zu spielen, ohne dass irgendjemand auf dem Dancefloor merkt, dass gerade etwas völlig anderes läuft. Aber es war wirklich ein hartes Stück Arbeit, der DJ zu werden, der ich immer sein wollte.
Du hast für dein DJing auch einen eigenen Controller entwickelt, mit dem du seit ein paar Jahren auflegst. Würdest du beschreiben, wie der funktioniert?
Es handelt sich um einen Traktor-Controller, der schlicht und einfach besser ist als die anderen, die sich auf dem Markt befinden. Er kann ein paar Dinge, die Traktor alleine nicht kann, aber das Wichtigste ist wohl, dass es sich um ein Interface handelt, bei dem man nicht permanent auf den Computerbildschirm schauen muss, da alle benötigten Informationen auf dem Controller selbst dargestellt werden. Außerdem übernimmt er einige Berechnungen rund um das Key- Matching, sodass man nicht immer alles selbst durchdenken muss. Das Problem für mich war immer, dass ich nicht all die Funktionen schnell genug zur Hand hatte, wenn ich diese mit der Maus oder einem anderen Controller ansteuern musste. Ich habe mit zwei Freunden von der Universität über acht Jahre an diesem Controller gearbeitet, wobei das Ziel war, ein Instrument und weniger einen Controller zu entwickeln. Es war allerdings viel Denkarbeit nötig, um dahin zu kommen. Ich musste mir etwa Programmierkenntnisse aneignen. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, weil wir hoffen, das Ding irgendwann auf den Markt zu bringen. Hätte ich diesen Controller nicht entwickelt, hätte ich vielleicht sogar das DJing aufgegeben. Eigentlich haben wir das Ganze nur gebaut, damit ich unbemerkt Krautrockplatten in meine Sets schmuggeln konnte. (lacht)
Hast du eigentlich eine musikalische Ausbildung genossen?
Ich hatte in der Tat das Glück, dass mein Vater sich selbst das Klavierspielen beigebracht hatte und das dann an mich weitergab. Ich durfte auch immer eher frei herumklimpern und eigene Melodien entwickeln und musste weniger irgendwelche starren Formen üben. Allerdings hörten meine Eltern nicht wirklich viele unterschiedliche Arten von Musik und ich war doch ziemlich abgeschnitten von der Popmusik der achtziger Jahre. Ganz anders als bei Luke Abbott oder Kieran Hebden, deren Väter Plattensammler sind. Manchmal denke ich, dass es schön gewesen wäre, hätte mir auch mein Vater als Kind Miles Davis vorgespielt. Es ist auch wirklich schön zu sehen, wie die Kinder meiner Freunde aufwachsen. Wenn Lukes Kinder etwa mit seinen Drum Machines spielen, finde ich das schön, weil ihnen dabei die Möglichkeit eröffnet wird, auch selbst etwas schaffen zu können, und weil Musik nicht nur etwas darstellt, was sich konsumieren lässt. Deshalb ist mir auch der Folk-Anteil beim neuen Album so wichtig, weil diese Musik ohne akademischen Sockel und ohne die Virtuosität funktioniert, die hingegen klassische Musik erfordert. Folk ist eine Musikform, die mit Fehlern arbeitet, etwas, das nicht in irgendwelchen Studios aufpoliert wurde. Darum geht es bei Musik: Sie muss als Kommunikation funktionieren, auch ohne dass man die Sprache der Worte versteht.
Stream: Holden – Renata (Daphni Remix)
Hat sich dein Verhältnis zu Musik seit den Anfängen von Border Community verändert?
Klar. Man wird älter, man bekommt neue Dinge mit. Allerdings haben wir unsere Naivität bewahrt und darüber sind wir auch sehr glücklich. Als wir mit Border Community starteten, war das wie ein Traum. Keiner von uns hätte jemals mit einem derartigen Erfolg gerechnet. Wir dachten eigentlich, dass wir hier unter Freunden unser kleines Ding durchziehen. Dann kam aber eine Art mittlere Phase, in der das Ganze auf einmal viel zu groß wurde, Künstler plötzlich Erwartungen an uns herantrugen und irgendwelche Leute versuchten, uns abzuzocken. Irgendwann begann dann schließlich eine sehr angenehme, späte Phase, in der ich Luke Abbott und Wesley Matsell kennenlernte. Ich bin wirklich froh, dass ich die komplette Zeit über Nathan (Fake, Anm. d. Red.) und Gemma (James’ Label- und Lebenspartnerin, Anm. d. Red.) als Freunde an meiner Seite hatte, die mir halfen, den Idealismus zu bewahren. Es hat sich nicht gut angefühlt, als wir wirklich erfolgreich waren. Dafür herrscht jetzt, bei unserem zehnjährigen Bestehen, fast ein Gefühl wie damals, als wir mit allem anfingen. Die Labelfamilie ist kleiner geworden, weil ich gelernt habe, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Ich muss mir selbst Raum geben, um gute Dinge hervorzubringen, und habe keine Lust, meine Zeit damit zu verschwenden, hinter irgendwelchen Menschen herzurennen. Nach zehn Jahren existiert Border Community immer noch, aber wir wollten auch nie ein Label machen, das zwei Platten im Monat releast – oder acht MP3s. Border Community war immer ein D.I.Y.-Ding und ich fühle mich sehr gut dabei. Ich plane nicht die nächsten paar Jahre voraus. Und die Miete kann ich nach wie vor durch mein DJing bezahlen.
Hast du eine Vorstellung davon, wie dein Leben in zehn Jahren aussehen soll?
Ich werde einen Hund haben. Vielleicht lebe ich dann auf dem Land. Und ich hoffe, dass ich immer noch mit Gemma zusammen sein werde.
Das klingt nach einem glücklichen Menschen.
Ja, das bin ich wohl wirklich.
James Holdens Album The Inheritors ist bei Border Community erschienen.