Text: Heiko Hoffmann, Foto: Kraftwerk
Erstmals erschienen in Groove 121 (November/Dezember 2009)
Jahrelang haben Kraftwerk an der Wiederveröffentlichung ihrer letzten acht Alben gearbeitet, von Autobahn (1974) bis Tour De France Soundtracks (2003). Das Ziel: Die Musik sollte endlich so klingen, wie die Band selbst sie damals immer in ihrem Düsseldorfer Kling Klang Studio gehört hat. Nun ist 12345679 – Der Katalog mit den neu abgemischten Klassikern erschienen. Und das Ergebnis erstaunt, vor allem bei den frühen Alben. Tatsächlich hat man Stücke wie „Trans Europa Express” oder „Nummern”, die die elektronische Musik der letzten drei Jahrzehnte entscheidend geprägt haben, noch nie so klar und direkt gehört wie auf den Neuabmischungen. Ein Blick zurück mit Ralf Hütter.
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Ein Treffen mit Ralf Hütter ist ein Treffen mit einem Unbekannten. Sicher, seine Musik und seine Stimme sind einem vertraut. Doch seit mehr als 30 Jahren existieren lediglich Konzertfotos von ihm, bei Fernsehinterviews oder für Pressefotos lässt er sich von seinem Roboter vertreten. Beim Treffen in den Räumen seiner Kölner Plattenfirma wirkt der 63-Jährige überraschend jung. Die Haare sind leicht rötlich gefärbt, er trägt helle Chucks, dazu eine Jacke von Dunderdon. Die selbsternannte Menschmaschine ist aufmerksam, gesprächig und duzt. Begeistert zeigt Hütter Dummies der Katalog-CDs mit bislang unveröffentlichten Archivfotos. „Jetzt klingt das so, wie es schon immer klingen sollte”, sagt er. Um eins hat er vorab gebeten: Keine Fragen nach Florian Schneider, dem Kraftwerk-Gründungsmitglied, das Anfang 2009 die Gruppe verlassen hat.
Ralf, du hast mal gesagt: „Unser Interesse gilt der Gegenwart und der Zukunft, nicht der Vergangenheit.“ Für die Veröffentlichung eures Katalogs habt ihr euch in den vergangenen Jahren aber weniger mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigt, sondern vor allem mit eurer eigenen Vergangenheit.
Ralf Hütter: Ja, das kann man sagen. Aber das würde ich nicht überbewerten. Das war einfach eine Aufgabe, die fällig war. Das ist ja unser Lebenswerk. Der Katalog, der vorher erhältlich war, existierte zum Teil in mieser Qualität und wurde damals mit wenig Sorgfalt rausgehauen. Zum Teil gab es da bedruckte Innenhüllen mit Werbung für irgendwelche Rock- und Schlagerprodukte in den CDs. So, wie wir das jetzt gemacht haben, kann das keiner mehr antasten. Die ersten drei Alben machen wir dann noch, wenn wir Zeit haben. Der Katalog ist jetzt aber erst einmal abgeschlossen.
Die Download-Kultur stellt verstärkt das Albumformat infrage. Der jetzt veröffentlichte Katalog umfasst acht Alben, nicht aber eure Singles. Das Albumformat scheint euch immer viel bedeutet zu haben.
Das stimmt. Das waren ja auch teilweise Konzeptalben. Bei Radioaktivität etwa ging es thematisch um Radiowellen und radioaktive Strahlung, bei Computerwelt drehte sich alles um den Computer. Aber es gab auch Ausnahmen vom Albumformat. Tour De France erschien damals zum Beispiel nur als Single, Expo2000 war eher eine EP.
Autobahn war 1974 euer erstes vollelektronisches Album. Zeitgleich habt ihr als erste Band das Konzept eines „Lautsprecher-Konzerts” umgesetzt, ein Konzert ohne jegliche direkte akustische Sounds. Wie kam es dazu?
Als Idee – Musik aus Strom – existierte das bei uns schon vorher. Aber es dauert ja immer, bis man eine Idee verwirklichen kann. Es hat uns viele Jahre Arbeit gekostet, bis wir die Instrumente und das Studio dafür hatten.
Ihr habt das Studio auf die Bühne geholt. Kann man sagen, dass ihr damit die heute bei elektronischen Konzerten üblichen Laptop-Sets vorweggenommen habt?
Unser Instrument war ja immer das Studio. Mit dem haben wir deshalb auch immer bei Konzerten gespielt. Und das stellte uns immer wieder vor technische Probleme. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre konnten wir zum Beispiel gar nicht mehr auftreten, und in den Achtzigern gab es auch nur eine Tour, weil die Musik für uns live nicht spielbar war. Wir haben damals, vor allem für die Rhythmustracks, zum Teil mit Tonbändern gearbeitet und dazu rumgemimt. Wir haben dann jahrelang intensiv daran gearbeitet, lebendige elektronische Musik zu machen, und dafür eignen sich Laptops natürlich besonders gut. Wir können dadurch jetzt auch auf Kontinenten spielen, wo wir früher nie waren. Wir waren zum Beispiel Anfang des Jahres mit Radiohead in Südamerika. Das wäre früher gar nicht möglich gewesen. Wir waren zwar auch vorher schon mobil, aber das war mit viel mehr Aufbauen, Stöpseleien und Arbeit verbunden. Allein was wir für Probleme hatten mit der Instabilität von Stromnetzen! In Paris hat sich während eines Konzerts mal das Tempo unserer Musik verändert, weil irgendwelche großen Firmen ihren Strom abgeschaltet haben.
In den vergangenen Jahren seid ihr vor allem als Liveband in Erscheinung getreten. Bieten euch Laptops heute bessere Möglichkeiten zur Improvisation?
Ja, klar. Wir arbeiten ständig an unseren Stücken und ändern für unsere Konzerte bestimmte Elemente. Wir verändern zum Beispiel die Tempi, die Klangfarben, selbst die Soundquellen. Durch die Laptops können wir jetzt auch unterwegs, im Hotel oder noch beim Soundcheck arbeiten. Das Risiko ist übrigens immer noch da. Computer stürzen ab, oder Programme hängen sich auf. Das lässt sich bei Live-Elektronik gar nicht vermeiden. Aber: no risk, no fun.
Heute ist das schwer nachzuvollziehen, aber als ihr anfingt, war es noch ein Tabu, elektronische Musik und Tanzmusik zu verbinden.
Insbesondere in der E-Musik war dieses Denken sehr ausgeprägt. Da hieß es oft: „Das kann man doch nicht machen.” Aber genau das hat uns immer interessiert. Es gibt von 1973 ein Stück von uns, das „Tanzmusik” heißt. Ich habe mir damals eine kleine Rhythmusmaschine besorgt, und mein Freund Florian hat die dann so umgebaut, dass man sie wie ein Schlagzeug spielen konnte. Wir haben damals auch eher auf Kunstpartys als auf Rockkonzerten gespielt. Wir fanden es immer gut, wenn Leute sich zu unserer Musik bewegten. Das hatte etwas von einem mechanischen Ballett. Es gibt ja viele Musiker, die selber nicht tanzen. Aber wir haben eigentlich immer gerne getanzt.
Von dem Technoproduzenten Derrick May stammt das bekannte Zitat: „Techno (…) ist ein Fehler. Wie Kraftwerk und George Clinton, die zusammen im Fahrstuhl stecken geblieben sind.” Rückblickend klingt das gar nicht so sehr nach einem Fehler, und Kraftwerk scheinen ein selbstverständlicher Teil in der afroamerikanischen Musiktradition zu sein.
Auf jeden Fall. Es gibt ja auch andere Zitate, die sagen, wir hätten den Funk in den Maschinen hörbar gemacht. Repetition und Trancezustände haben uns immer interessiert. Und wir machen da keinen Unterschied, ob die Repetition aus der Steckdose oder von James Brown kommt.
Vor allem durch „Trans Europa Express” wurdet ihr 1977 auch bei Club-DJs sehr beliebt. Wie habt ihr das erlebt?
Als wir Ende der Siebziger in New York zu Besuch waren, nahm uns das Dance-Department unserer Plattenfirma mit in illegale Clubs. Wir tanzten da, und plötzlich spielte der DJ, das war Afrika Bambaataa, „Trans Europa Express” und „Metall Auf Metall”. Doch die Stücke waren nicht zehn, sondern 20 Minuten lang! Ich dachte noch: „Komisch, die Stücke sind doch gar nicht so lang.” Aber dann fand ich heraus, dass er zwei Acetate derselben Platte benutzte und sie ineinander mischte. Wir fanden das fantastisch. Wir selbst haben unsere Musik im Studio manchmal stundenlang gespielt. Dass die Stücke schließlich eine bestimmte Länge hatten, lag nur an der Spielzeit, die man auf Vinyl pressen konnte.
Bambaataa samplete euch später auch für seine einflussreiche Single Planet Rock. Eurer eigenen Idee von Musik war aber vermutlich Detroit-Techno näher, für dessen Produzenten ebenfalls das Erschaffen neuer Sounds im Vordergrund stand. Empfandet ihr das auch so?
Wir haben das sehr stark so empfunden. Wir haben diese Musik aus Detroit, als wir sie zum ersten Mal hörten, sofort verstanden. Das war wie eine Traumhochzeit. (lacht) Das waren Brüder im Geiste. Das gab uns auch viel Energie für unsere eigene Arbeit. Du kannst dir ja vorstellen, dass es, als wir anfingen, nur einen kleinen Kreis von Eingeschworenen gab. Unsere Musik wurde zu Beginn ja nicht im Radio gespielt. Wir fühlten uns als Außenseiter.
Zu Beginn eurer Karriere habt ihr mit Kling Klang euer eigenes Studio gebaut. Habt ihr damit auch das Do-it-yourself-Ethos vorweggenommen, das später durch Punk und Postpunk populär wurde?
Wir waren immer Amateure. Mein Partner Florian und ich waren keine akademisch ausgebildeten Musiker. Unsere Universität waren die Clubs und die Straße. Wir waren sozusagen Heimwerker. Für uns waren Kraftwerk und das Kling-Klang-Studio ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Wir gehörten zur ersten Nachkriegsgeneration, und wir wollten Musik aus Strom machen.
Ist es heute schwer für dich, neue Inspirationen zu finden?
Nein. Die ganze Welt ist voller wundersamer Dinge, die man als Künstler umsetzen kann.
Vor ein paar Jahren hast du in einem Interview gesagt, dass Kraftwerk ohne Florian Schneider „unvorstellbar” sei. Nun hat Florian Schneider Anfang des Jahres [2009, de. Red.] Kraftwerk verlassen. Gibt es Kraftwerk noch?
Ja. Nach dem Interview gehe ich zurück ins Studio.