burger
burger
burger

VISIONQUEST Die Jungsbande im Partykeller

- Advertisement -
- Advertisement -

Text: Todd L. Burns, Fotos: Michael Mann
Erstmals erschienen in GROOVE 131 (Juli/August 2011)

Der Detroiter Seth Troxler zählt zu den allerbeliebtesten und -erfolgreichsten DJs zurzeit. So haben ihn die Leser des Internetmagazins Resident Advisor kürzlich – gleich hinter Ricardo Villalobos und Richie Hawtin – zum drittbesten DJ 2010 gewählt. Als Gastsänger für Tiefschwarz, Agoria oder Art Department gehört er zudem zu den aktuell gefragtesten Housestimmen. Und unter dem Namen Visionquest sorgt Troxler nun gemeinsam mit seinen Freunden Lee Curtiss, Ryan Crosson und Shaun Reeves für ausschweifende Partynächte und Platten. Damit führen Visionquest die Achse Detroit–Berlin ins aktuelle Jahrzehnt.

„Ich hab Starks.“
„Gut, dann nehm ich Ewing.“
„OooooooooooOOOOOOOOoooooooo.“
„Halt’s Maul.“

Ich sitze in einer Wohnung in Berlin. Wir sind zwanzig Minuten vom Watergate entfernt, 25 vom Club der Visionäre. Aber ehrlich gesagt fühlt es sich an, als seien wir in den USA. Bill Patrick, ein US-DJ, starrt gebannt auf den Fernseher. Er hat den Basketball-Veteranen John Starks als seinen Spieler für ein anstehendes Wii-Spiel ausgewählt. Seth Troxler sitzt neben ihm und steuert die Basketball-Legende Patrick Ewing. Ryan Crosson und Shaun Reeves haben sich dagegen für aktuelle Sportstars entschieden. Im Verlauf des Spiels wird klar, dass die Vorabstichelei gerechtfertigt war. Troxler spielt dieses Computerspiel selten, wenn überhaupt. Und während Crosson und Reeves langsam davonziehen, muss Patrick seinem Teamkollegen beibringen, was jedes Knöpfchen bewirkt. Währenddessen steht Lee Curtiss neben dem Breitwand-Fernseher und erklärt seinem langjährigen Freund und DJ-Kollegen Derek Plaslaiko, warum er neulich nach einem Auftritt in Rumänien seine Schuhe waschen musste.

Diese Szene hätte sich genauso gut im Vorstadt-Keller in Michigan eines jeden der Kernmitglieder von Visionquest – Troxler, Crosson, Reeves, Curtiss – zutragen können. Man rechnet fast damit, dass Seths Mama ihren Kopf durch die Tür steckt und uns wissen lässt, dass die Pizza da ist, die Musik etwas zu laut und dass sie mit Lees Mama gesprochen hat und es voll in Ordnung sei, wenn er hier übernachtet. Doch wir sind in Friedrichshain, Berlin, Deutschland, und die vier sind inzwischen Mitte/Ende 20. Troxler, Crosson und Reeves wohnen hier seit 2007, das Trio nutzt den Stadtteil als Basis, um Musik zu machen, weltweit zu touren und, mit Curtiss, ein Plattenlabel zu betreiben. Es heißt Visionquest und bezieht sich auf eine Zeit, als alle vier noch in Michigan waren und versuchten, genau dasselbe zu tun wie jetzt, nur damals noch in viel kleinerem Maßstab. Das Quartett ist aufgewachsen in und um Detroit – und gehört damit zu einer neuen Generation von Elektronikmusikern im geschichtsträchtigen Geburtsort des Techno. Sie sind gleichermaßen inspiriert von den offenherzigen Musikern, die ihre US-amerikanische Heimat so berühmt gemacht haben, wie von der Art, wie die Raver in ihrer europäischen Wahlheimat feiern.

Denn das Detroit, aus dem Visionquest kommen, war nicht das Detroit, das Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson hervorgebracht hat. Natürlich gab es auch bei den Jüngeren elektronische Tanzmusik. So waren Richie Hawtins „Control“-Partys ein großer Einfluss, ebenso ein örtlicher Club namens Motor. Aber Troxler (im Bild links, d. Red.) zum Beispiel verbrachte einen Großteil seiner Jugend im Regionalstädtchen Kalamazoo, auf halbem Weg zwischen Detroit und Chicago gelegen. Dort begann er immerhin schon früh, sich mit House zu beschäftigen. Denn sein Stiefvater war mit dem Lokalhelden Jay Denham befreundet, dem Gründer von Black Nation Records. Curtiss wiederum nennt Achtzigerpop als einen wichtigen Teil seiner musikalischen Sozialisation. Crosson erzählt, dass er „nicht mit 14, 15 auf Raves ging wie viele meiner Freunde“. Die erste Vinylscheibe, die er je kaufte, war Rolandos „Knights Of The Jaguar“ – mit 18. Davor? „Ich fuhr durch die Gegend, hörte DJ Shadow und bekiffte mich mit meinen Freunden.“

So war denn die erste elektronische Musik, die sie allesamt in ihren Bann gezogen hat, die erste Welle von Minimaltechno, und dabei vor allem das Label Perlon. Troxler redet von Ricardo Villalobos’ erstem Auftritt in Detroit, zu dem der Deutsche damals von Richie Hawtin eingeladen worden war, als Schlüsselmoment. Neben lokalen Wegbereitern wie Magda, Moodymann oder Carl Craig nennen sie alle Perlon-Boss Zip als wichtigen Einfluss für ihr Deejaying. Näher an der Heimat waren ihre Zeitgenossen der Minus– und Spectral-Sound-Crews. Aber während Unterstützung und Einfluss von beiden entscheidend für die frühen DJ- und Produzentenkarrieren der heutigen Visionquest-Macher war – „Matthew Dear war der Grund, warum ich mal nach Detroit gezogen bin“, hat Curtiss mal behauptet –, sind die vier auch bei diesen Truppen außen vor geblieben. Crosson veröffentlichte mal auf Minus als Berg Nixon, einfach weil er unter verschiedenen Namen woanders tätig sein wollte. Und Curtiss ist bei Spectral-Sound-Partys live aufgetreten. Aber er galt nie als Kernmitglied des Labels. Stattdessen zählen alle vier heute zur erweiterten Wolf+Lamb-Familie. In Interviews beziehen sie sich jedoch stets zunächst aufeinander – und erst dann auf andere Sachen. Die Verbindung zwischen dem Quartett ist tief und begann Anfang der nuller Jahre mit einer Party namens Tesh Club, die eigentlich nur aus ein paar Freunden bestand, die sich in Curtiss’ und Troxlers Keller trafen, um auf einer hochwertigen Anlage Platten anzuhören. Daraus wurde letztlich eine regelmäßige Party, die Crosson und Troxler in einem örtlichen Club veranstalteten. „Etwa zu der Zeit hatten wir echt die Nase voll vom Ausgehen, weil alles ziemlich langweilig, repetitiv, irgendwie gleich wurde, you know?“, erklärte Troxler 2008 in einem Interview: „Niemand stand auf die Musik aus Europa, die wir hörten.“ Die Freundschaft, die sich auf dieser Basis zwischen den vier entwickelte, führte bald zu einem Besuch einer Hütte in der Wildnis von Michigan, die Crossons Vater gehörte. Dort machten sie Feldaufnahmen, warfen jede Menge Halluzinogene ein und kamen der Natur näher. Sie nannten diese Erfahrung „Visionssuche“ – ein Begriff, der einen Initiationsritus mancher Indianerstämme beschreibt, bei dem ein Junge ungefähr diese Dinge tun muss (abgesehen von Feldaufnahmen vermutlich) und am Ende bereit ist, ein Mann zu werden. Es ist auch der Titel eines kitschigen Achtzigerfilms mit Matthew Modine als Highschool-Wrestler, der den seltsamen deutschen Titel Crazy For You – Liebe Auf Der Ringermatte trug. Aber irgendwie macht es das nur besser. Wer auch nur kurze Zeit mit einem Mitglied von Visionquest – oder allen vieren zusammen – verbringt, wird sich wahrscheinlich krümmen vor Lachen ob ihres Humors, der gern mal ins Pubertäre abgleitet. So fand sich auf Troxlers erster Solo-12-Inch ein Lied namens „Crosson Loves Poo“ („Crosson mag Kacka“). Curtiss nannte seinen Remix dann: „Lee Curtiss Likes It, Too“.

Weiter zu Teil zwei

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: So feiert die Post-Corona-Generation

Die Jungen feiern anders, sagen die Alten – aber stimmt das wirklich? Wir haben uns dort umgehört, wo man es lebt: in der Post-Corona-Generation.

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.