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Mein Plattenschrank revisited: Motor City Drum Ensemble

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Foto: Ula Mirowska (Motor City Drum Ensemble)

Danilo Plessow war schon einmal, 2011, Gast bei unserem Format Mein Plattenschrank, hangelte sich damals an Klassikern aus Hip Hop (Nas), House (Moodymann) und Electro (Drexciya) entlang. Da kaum jemand in der Szene als derart passionierter Digger in Erscheinung tritt – seine Plattensammlung beinhalte momentan zwischen 12.000 und 20.000 Exemplare – und sich Geschmäcker bekanntlich verändern, lohnt sich eine erneute Standortbestimmung mit Motor City Drum Ensemble anno 2019 allemal.

„Jazz ist für mich die absolute Basis, durch die ich zur Musik gefunden habe. Immer noch. Ich sehe einfach in Allem, was heutzutage relevant ist, die Bezugspunkte zu generell afroamerikanischer Musik, Blues etwa und den Sachen, die vor Jazz kamen. Im Speziellen ist er für mich aber die Wurzel, die erste Liebe und das, was mich mein Leben lang begleitet hat.” An den grundlegenden musikalischen Vorlieben des gebürtigen Schwäbisch Gmündners scheint sich zunächst wenig geändert zu haben. Früher, räumt er allerdings ein, habe er weitaus mehr Hip Hop und vor allem Drum’n’Bass gehört, wozu er die Verbindung etwas verloren habe. Die Faszination für am Exzess ausgerichtete Clubmusik lasse doch etwas nach, die fortwährende Hinwendung zum Ruhigeren, Transzendentalen und Meditativen erscheint als logische Konsequenz.

Immer wieder merkt dem 1985 geborenen Plessow an, dass er gewisse Platten früher nicht verstanden oder sich zumindest nicht die Zeit genommen hätte, sie bewusst zu hören – Geduld und die Bereitschaft, sich mit tendenziell unzugänglicheren Inhalten auseinanderzusetzen, steigen wohl doch mit dem Alter, die Lust auf Funktionalität verspüre er kaum noch. Auch Pläne außerhalb des DJ-Kosmos nehmen dabei konkretere Formen an: „Ich sehe mich nicht als DJ für den Rest meines Lebens, komme ja auch eher vom Produzieren, was massiv unter dem Zeitmangel leidet. Ich arbeite tatsächlich darauf hin, wieder weniger spielen zu können und weiß ehrlich nicht, wie lange ich in der Intensität noch auflegen kann und will, obwohl ich es über alles liebe.”

Auch die charakteristische Sammelwut scheint sich auf Dauer zurückzubilden. Im Gegensatz zu früher braucht Plessow nicht mehr jedes Vinyl um jeden Preis und macht dabei selbst bei Klassikern Abstriche. „Ich glaube kaum, dass ich, wenn ich in x Jahren aufhören werde, in Vollzeit aufzulegen, wirklich alle Underground Resistance-Platten behalten werde. Selbst da, wo wir auf einem sehr hohen Level sind, braucht man nicht alles. Maxis sind eh nochmal so eine Sache – dann lieber viele Jazz-LPs! Obwohl ich’s auch cool fände, mit 75 im Schaukelstuhl noch Knights of the Jaguar zu hören.”, entwirft er mit einem Lachen eine potenzielle Freizeitaktivität für den DJ-Ruhestand.

Dass Jazz noch immer das musikalische Fundament bildet, merkt man der Selektion zwar deutlich an. Schlagwörter wie Spiritual Jazz, Kopf-Yoga oder Meditation lassen aber darauf schließen, dass sich Plessows Hörgewohnheiten durchaus in entspanntere Gefilde verschoben haben. Natürlich finden auch die obligatorischen Raritäten Einzug in die Auswahl, für die MCDE als unermüdlicher Digger seit Anbeginn seiner Karriere steht – australischer EBM oder vergessene Soulplatten aus Detroiter Fabrikgebäuden etwa. Am Ende lauert außerdem noch eine italo-belgische Überraschung aus den Achtzigern.

Brother Ahh w/ Special Guest Max Roach – Sound Awareness (1972)

Was mich an dieser, nun ja, militanten Jazzmusik der Sechziger und Siebziger, die mit dem Social Rights Movement in Amerika Hand in Hand ging, fasziniert, ist diese extreme Intellektualität. Sowohl in der Musik als auch in den politischen wie sozioökonomischen Botschaften. Wie lebt man als Gesellschaft zusammen? Was definiert uns als Mensch und wie können wir das erreichen? Max Roach hat das auf dem Cover in einem kurzen Gedicht ausgedrückt: ‘The humanness of life demands that man considers his relationship with one another and to all of creation – to the winds and galaxies, to animals and trees. To humanity in their joy and sorrow (…)’ und so weiter und so fort. Das sind Dinge, die aktueller denn je und völlig losgelöst von Zeit sind. Es ist faszinierend zu sehen, dass es vor 50 Jahren schon genau die gleichen Lösungsansätze gab, das damals aber extrem erstickt wurde, viele von diesen Menschen in Gefängnisse gesteckt oder erschossen wurden. So wuchs eine ganze Generation ohne Väter und Mütter auf, was die Ghettoisierung in Amerika stark befeuert hat. Es ist schlicht deprimierend mit anzusehen, wie Politik Potenzial zerstört. Mir tut es dann gut zu verfolgen, wie man trotz so düsterer Zeiten – oder gerade deswegen – so extrem kreativ und friedlich in seiner Botschaft sein kann. Man hat trotzdem versucht, Lösungen zu finden, was durch die Musik durchscheint. Gerade Spiritual Jazz ist für mich wie ein Art Kopf-Yoga und befreit einen von den ganzen Lasten, die um einen rumschwirren. Eine sehr wichtige Platte, die eigentlich ja gar nicht so viel mit Jazz zu tun hat. Obwohl Max Roach einer der größten Jazz-Schlagzeuger ist, ist es eigentlich eher eine Mischung aus Musique concrète und Stockhausen-Soundcollagen. Würde wahrscheinlich auch den ganzen Ambient-Hipstern ganz gut reinlaufen! (lacht) Ich habe die Platte seit vielleicht 15 Jahren und sie wurde stets aktueller. Sie ist von 1969 und macht für mich jetzt mehr Sinn als vor 15 Jahren. Vor allem auch, wenn man es zu gerader angesagter Musik in Kontext setzt. Ich finde das ganze Ambient-Ding übrigens super, das war kein Diss!

Ich vermisse übrigens generell das Politische in unserer Szene, obwohl ja derzeit sehr viel Politik drin steckt. Das wird nicht thematisiert. Vielleicht kriege ich’s auch einfach nicht mit. Leider sehe ich dann doch nur Instagram mit wenig künstlerischem Anspruch, der nicht mal ansatzweise in die Richtung geht. Zu meiner Zeit wurde in Stuttgart beispielsweise sehr wichtiger Conscious Hip Hop veröffentlicht. Massive Töne, Freundeskreis, in München gab’s Main Concept, die auch starke Lyrics hatten. Ein breiter Erfolg für derartige Musik wäre auch mal wieder schön. Das auf jeden Fall lieber als Haftbefehl und wie sie alle heißen.

Gangsta Rap kannst du also gar nichts abgewinnen? Im letzten Plattenschrank hattest du ja noch Nas gelistet.

Musikalisch ja! Ich habe auch Mobb Deep und Group Home geliebt als Kid. Mittlerweile möchte ich so eine Negativität aber nicht mehr haben. Illmatic ist alleine auf lyrischem Niveau was komplett anderes als Tatwaffe oder wie sie alle heißen. Von Belang ist natürlich auch, ob die Texte für den Vortragenden wirklich Alltag sind oder ob die Authentizität künstlich kreiert wird. Das ist nämlich totaler Quatsch. Und damit wird den Kids, die wirklich in beschissenen Umfeldern aufwachsen, eine Lebensanleitung gegeben. Das ist doch total… meins ist es nicht. Wenn das für ein Kid der letzte Halt ist, den es im Leben hat, wird’s echt schwierig. Es geht mir einfach darum, dass die Diskrepanz zwischen Bitches-Autos-Geld-Musik zu der, die wirklich eine Meinung hat, inzwischen unglaublich ist. Da gab es in den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern vielleicht noch halbwegs eine Balance. Ich will jetzt auch nicht über die Deutschrap- und Hip Hop-Szene herziehen, dafür kenne ich mich zu wenig aus. Aber auch was die Verrohung von Sprache angeht – „You’re such a fuckin’ ho, I love it” (d.A.: Line aus Kanye Wests und Lil Pumps „I Love It”) – wirklich? Dann doch lieber zur nächsten Platte.

Colin Offord – Empty Vessels (1981)

Auch so ein Album, für das ich früher einfach nicht die Geduld für aufgebracht oder verstanden hätte. Aber mittlerweile transportiert mich das an einen Ort, den ich so noch nicht kannte. Extrem reduziert, extrem entspannt, eigentlich eher Aboriginal-beeinflusste australische Musik. So ein Typ, der auf einem Felsen meditierend in der Brandung von Byron Bay oder so sitzt. Mit einem Nagra Reel-to-Reel-Recorder die Naturgeräusche aufnimmt. Dazu Maultrommel und Percussion – sehr sedierend. Obwohl: Nicht unbedingt sedierend! Ich hör’s eher so sonntags zum Aufstehen, es ist eine perfekte Morgen-Platte. In den letzten Jahren habe ich nach und nach angefangen, bewusst immer mehr Indigenous Music zu hören. Ich habe schon immer auf dem Flohmarkt von einschlägigen Labels wie Ocora oder Folkways gesammelt, die immer versucht haben, Musik aus verschiedenen Ländern und Subkulturen zu dokumentieren. Die Offenheit, solche Platten am Stück zu hören, habe ich erst in letzter Zeit entdeckt und sie total zu lieben gelernt. Im richtigen Moment hat das echt was Transzendentales. Bei diesem Album vor allem die Seite, auf der so ein bisschen Meeresrauschen im Hintergrund ist.

Yusef Lateef – Jazz Mood (1957)

Dann doch lieber mal was ganz Klassisches. Lateef ist für mich ganz wichtig, weil er in seinem Spielen ganz viele orientalische Einflüsse hatte. Das ist Avantgarde, die nicht unbedingt wahnsinnig anstrengender Free Jazz ist, sondern meditativ und dieses Spiritual Jazz-Ding antizipiert hat, was Alice oder John Coltrane oder Pharoah Sanders später aufgenommen haben. Schon Ende der Fünfziger hat er dieses Niveau tiefer Spiritualität erreicht, wie Sun-Ra übrigens auch. Besonders „Morning” finde ich wahnsinnig schön – eine der Platten, die ich mit ins Grab nehmen werde.

The Montclairs – Dreaming Out Of Season (1972)

Ich will hier natürlich auch Sachen vorstellen, die ich immer hören kann und niemals verkaufen würde. Deswegen jetzt eine Soul-Platte, die mir sehr am Herzen liegt. In dem Genre sind die Preise leider meistens ziemlich hoch, gerade 7-inches. Bei LPs glücklicherweise eher weniger. Die ist auch nicht besonders teuer oder selten, einfach nur unglaublich gut. Gerade bei Soul und Funk merkt man stark, wie sich der eigene Geschmack wandelt. Wenn man jünger ist – wenn ich übrigens „man” sage, meine ich meine Generation, die von Jazzanova, Trüby Trio und so weiter geprägt wurde – findet man diese Uptempo-Nummern und rohen Funk geil. Je älter man wird, desto mehr verlangsamt sich das alles. (lacht) Die hier hat so eine erhabene Schönheit, die ich unendlich hören kann. So ein bisschen wie eine obskurere Variante von Marvin Gayes What’s Going On. Die habe ich einfach sehr gern und dafür, dass sie so gut ist, ist sie immer noch nicht komplett angekommen.

John Watermann – Warmth Is The Fifth Room (1988)

Hier noch mal was weirdes, das ich unheimlich gerne auflege. Eine australische Industrial- oder EBM-Platte, die mit ihrer 707-Bassdrum sehr housy klingt. Finde ich sehr spannend. Young Marco hat sowas, glaube ich, mal Accidental House genannt. Das trifft’s eigentlich ganz gut. House produzieren, ohne zu wissen, was man da gerade macht. John Watermann ist auch so ein Geheimtipp, der noch nicht wirklich auf dem Schirm ist. Zwei oder drei coole Stücke sind da jedenfalls drauf.

The Interpretations – Here I Am In Georgia (wohl zwischen 1972 und 1975)

Ich sammle auch unglaublich gerne 45s. Das Genre Soul existiert in dem Format am stärksten, wie ich ja schon gesagt habe. Die meisten coolen Sachen kamen leider nur als 7-inches und in extrem geringen Auflagen raus. Oder wurden weggeschmissen, weil sie sich nicht verkauften. Die Geschichte zu der ist, dass ein Typ in Detroit den kompletten Vorrat dieses Labels in einem Fabrikgebäude gefunden hat. Ein belgischer Freund, der hobbymäßig mit 45s dealt, und ich waren dann zur rechten Zeit am rechten Ort. Wir konnten davon dann ganz viel mitnehmen. Zuerst waren wir aber argwöhnisch und haben einen Kumpel aus Detroit konsultiert. Ich meine, zwei weiße Jungs, die in der Ecke mit 5000 Dollar in der Tasche unterwegs sind. Der fragte uns dann nur, ob wir lebensmüde wären und dass wir das auf jeden Fall lassen sollten. Wir haben uns aber dann doch fürs Risiko und die Platten entschieden. Im Nachhinein war’s total nett und der Verkäufer cool. Man hat immer gewisse Vorstellungen, wie krass es da sein kann, weil man auch von harten Sachen hört. Aber die Leute sind tatsächlich unglaublich freundlich und es ist jedes Mal ein Riesenspaß, in Amerika diggen zu gehen. Ich hatte bis jetzt auch noch keine wirklich gefährliche Situation. Wenn, dann am ehesten in eher weißen, ländlichen Gebieten. In Großstädten überhaupt nicht.

New Tune – A Little Bit Of Everything (1984)

Eine Platte, die ich in letzter Zeit gefunden habe und die mir mit ihrem whacky Italo-Charme sehr ans Herz gewachsen ist. Die hätte mir vor fünf Jahren wahrscheinlich noch nicht so gefallen, mein Geschmack hat sich in letzter Zeit aber auch sehr verändert. Mit diesen Achtziger-Sachen geht’s ja vielen so. Es hat Leute wie die Amsterdam-Crew gebraucht, um das wieder salonfähig zu machen. Zwischen diesem ganzen Trash sind viele Perlen, in die man aufgrund des Veröffentlichungsdatums vielleicht gar nicht reingehört hätte. Auch die Jazz-Polizei hat ja früher immer gesagt, dass man sich nach 1974 nichts mehr anhören kann. Das war in den Neunzigern ganz stark, mit der Zeit verschob sich diese künstliche Grenze immer mehr nach hinten, das ist ganz witzig. Die Platte läuft wohl noch ziemlich unter dem Radar, das ist so belgischer Synth Pop mit Funk versetzt – sagt zumindest Discogs. Eine typische Paris-Flohmarkt-Platte, bei der viele nach der Track-ID fragen.

Motor City Drum Ensembles Radioshow State Of Rhythm erscheint an jedem vierten Dienstag auf Worldwide FM.

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