burger
burger
burger

TIEFSCHWARZ Kinder des Wahnsinns

- Advertisement -
- Advertisement -

Fotos: Helena Kühnemann

Elektronische Musik und Musikvideos sind in der Regel oft den Major-Labels vorbehalten oder finden am ehesten im Rahmen eines Albums statt. Wer möchte nach wie vor Geld in die große Promomaschinerie investieren, wenn Musik in Form unzähliger Gigabytes ein austauschbares Leben auf der Festplatte fristet, die neueste Scheibe in Sekundenschnelle von diversen Onlineanbietern aus dem Netz gezogen werden kann und sich selbst Pressungen aktueller Langspieler lediglich im Umfang von 300 bis vielleicht 1000 Stück bewegen? Auch die Zusammenarbeit des Duos Tiefschwarz und dem Filmemacher Ralf Schmerberg war anfangs so nicht vorgesehen und letztlich mehr Zufallsprodukt glücklicher Umstände, das jedoch innerhalb kürzester Zeit in geordnete Bahnen finden sollte. Aber von Anfang an.

Tiefschwarz_Khan_Schmerberg_02

Nicht nur war es in letzter Zeit vergleichsweise ruhig um Ali und Basti Schwarz geworden, auch wurde es rein rechnerisch Zeit, die Arbeit der letzten Jahre wieder auf einem Audiospeichermedium festzuhalten – schließlich hatte der Fünf-Jahres-Rhythmus bisher ganz gut funktioniert. Der Entstehungsprozess der LP Left mit Sänger Khan war von Begegnungen und Zufällen geprägt. Gemeinsam hatten sie vor zwei Jahren während wilder Nächte in Mexiko einen emotionalen Berührungspunkt gefunden, der die langjährige lose Freundschaft zurück in Berlin um eine kreative Zusammenarbeit erweiterte. Der gemeinsame Track „Do Me“ funktionierte für beide Seiten als Prototyp so gut, dass direkt weitere Layouts ausgetauscht und besungen wurden, die bald den roten Faden einer Platte bildeten. „Ab da war für uns klar, dass wir diesen Gedanken weitertragen mussten“, erklärt Ali Schwarz. „So ist die Idee eines Livekonzeptes entstanden und auch der Bandcharakter, den das Projekt nun ein wenig in sich vereint, fußt darauf. Es ist gut, dass diesmal alles etwas intimer abläuft und nicht so großspurig aufgezogen ist, wie wir das bei unserem letzten Album probiert haben.“ Zusammen mit dem Produzenten Santé versuchte man sich damals an einem aufwändigen Visualkonzept, das schlussendlich jedoch mehr einengte und zu Lasten der Spontanität ging. Mit Khan gingen Tiefschwarz nun neue Wege und suchten letztlich nur nach Videomaterial, um den ersten Auftritt beim Melt!-Festival noch ein bisschen aufzupeppen.

Für den Sekundenarbeiter Ralf Schmerberg war eine Stunde Spielzeit zunächst wahnsinnig viel, hatte er doch halb zwischen Dreh und Angel beim Filmen in Kaschmir erstmals von der Idee erfahren. Schmerberg erklärte sich aber bereit, Musik und Archivmaterial um einer Einschätzung wegen auf sich wirken zu lassen. Aus anfänglichem Rumprobieren entstand schnell eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema. „Ich erkannte, dass ich hier im Prinzip ein weißes Blatt Papier vor mir habe, auf das ich intuitiv schneiden kann, denn im Gegensatz zu vielen anderen Genres wird Gesang in der elektronischen Musik oft eher als weiteres Instrument betrachtet, sodass eine gewisse Neutralität erhalten bleibt. Emotionen und Gefühle spielen die zentrale Rolle“, sagt der Regisseur. „Ich arbeite viel mit Überproduktion und Überangebot. Speziell in der Werbung kommt eine Menge des entstandenen Materials überhaupt nicht unter. Es fällt echt viel Gold zu Boden. Dieser ganze edle Abfall bekommt nun plötzlich ein Zuhause und wird sichtbar. Das hat mich gereizt.“ Die Bebilderung einer gesamten Platte anstatt einzelner Musikvideos ist für Schmerberg ein Projekt, mit dem er sich gut identifizieren kann. So gestaltete er bereits im vergangenen Jahr für Meret Beckers Album Deins & Done sieben ausgewählte Stücke in einem 30minütigen Kurzfilm voller Surrealitäten.

Tiefschwarz_Khan_Schmerberg_01

Von Surrealitäten erzählt auch Lunacy’s Children, das in ähnlich episodenhafter Abfolge eine trennscharfe Symbiose harter Cuts und flüchtiger Kausalzusammenhänge mit Musik und Performance von Tiefschwarz und Khan eingeht. Während der intimen Aufführung in Schmerbergs Atelier wird an diesem herbstlichen Dienstagabend deutlich, wie sehr die Bilder die Musik-Performance verstärken. So lebt die Hektik der pumpenden Synthesizer in „Free Falling“ durch die hauptsächlich mit Bankern besetze Shanghaier Metro und die grotesk tanzende geschminkte junge Frau richtig auf, bevor im nächsten Moment mit Aufnahmen von Wäldern und Vogelschwärmen eine zweite, entschleunigende Ebene integriert wird. Die hauchende Stimme von Emily Karpel erzählt in Verbindung mit der lasziven Glitter-Porn-Episode zwar weniger von Gegensätzen, die eindeutige Kompatibilität langweilt dennoch nicht. Auch „Do Me“ entwickelt sich zur farbintensiven Provokation. Vieles, was beim bloßen Hörerlebnis auf der Strecke bleibt, wird mit den Bildern oder dem direkten Live-Empfinden aufgefangen, sei es im Club oder klassischeren Kulturveranstaltungen. Watergate goes Berlinale, möchte man meinen.

Luncay’s Children
A film in 11 sequences by Ralf Schmerberg
Music by Tiefschwarz featuring Khan

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: So feiert die Post-Corona-Generation

Die Jungen feiern anders, sagen die Alten – aber stimmt das wirklich? Wir haben uns dort umgehört, wo man es lebt: in der Post-Corona-Generation.

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.