Interview: Thilo Schneider
Erstmals erschienen in Groove 147 (März/April 2014)
Ob nachtwandlerische Dancefloor-Schuber, Ballett-Soundtracks oder akademisierte Drone-Musik – der in Berlin lebende Phillip Sollmann zählt mit seinen Veröffentlichungen zu einen der vielseitigsten Produzenten der vergangenen zehn Jahre. Mit Decay erschien Ende März sein drittes Album auf Dial. Wir trafen ihn im Literaturcafé im alten Westen der Stadt, wo er bei einer Kanne grünen Sencha unter anderem über sein Album, buddhistische Rituale in japanischen Tempelanlagen – und was das eventuell mit Techno zu tun haben könnte – redet.
Phillip, dein neues Album fängt mit den Worten „My body is not listening to me“ an, ist das ein Statement von dir zum Thema Älterwerden?
Das liegt natürlich nahe bei dem Titel Decay, der Verfall, das Verblassen der Jugend. Das ist auf der einen Seite eine ganz klare Tatsache, das passiert unweigerlich, ist aber auch nichts, was mich wirklich beunruhigt – ich finde es irgendwie sogar sehr schön. Ich habe den Satz von einer Tellus-Kassette von 1982 gesamplet, das war ein amerikanisches Kunst-Kassettenlabel mit limitierten Auflagen, die für jede Edition einen Kuratoren hatten, der zu einem bestimmten Thema die Kassette zusammengestellt hat. In diesem Fall ging es um Sprache. Das ist der gleiche Mann, der am Ende des Album mit „touching music“ zu hören ist. Er hatte einen Schlaganfall und kann sich nicht mehr bewegen. Mich hat es immer schon extrem gereizt, mit Sprache zu arbeiten, gerade wegen des Kontrasts zur elektronischen Musik. Es wirkt immer so stark.
Der Fakt, dass es ein Sample ist, schafft natürlich auch eine gewisse Distanz zu dir als Autoren der Musik. Trotzdem hast du „My body is not listening to me“ ja nicht ohne Grund ausgesucht, oder?
Ja, weil das ein Zustand ist, den man vielleicht auch kennt. Und den man in verschiedenen Kontexten denken kann, wie zum Beispiel, dass man vielleicht zu lange ausgegangen ist und der Körper einfach nicht mehr funktionieren will. Das kann ja jeder selbst für sich interpretieren, für mich war es einfach so stark, dass ich damit arbeiten musste.
Warum hast du es nicht selbst eingesprochen?
Ich habe doch gesungen, auf „Track 93“! Das werde ich in Zukunft auch wieder mehr machen. Bevor ich mit der elektronischen Musik angefangen habe, hatte ich ja in vielen Bands gespielt und da war ich immer der Sänger. Ich singe auch viel zu Hause oder im Studio, ich habe bisher nur noch nicht den Weg gefunden, das mit meiner Musik zu verbinden. Das war mir bisher entweder zu cheesy oder ich hatte einfach nichts zu sagen. „Track 93“ ist der erste Versuch, meinen Körper und meine Stimme wieder in meine Musik zu integrieren. Eigentlich wollte ich den Track gar nicht mit aufs Album nehmen, meine Freundin hat aber darauf bestanden. Und darüber bin ich im Nachhinein auch ganz froh.
„Decay“ ist ausgesprochen kohärent geworden.
Das freut mich zu hören. Das war mir sehr wichtig. Als Plattensammler, wobei: Sammler bin ich gar nicht, also als Plattenbesitzer …
Du bezeichnest dich nicht als Plattensammler?
Nein, weil ich nichts sammle, was speziell teuer oder selten ist. Ich will einfach gute Musik hören und habe natürlich wahnsinnig viele Schallplatten. Mir hat das Albumformat einfach so viele schöne Momente gebracht als Musikhörer, dass ich versuche, das im Techno-Bereich, der die Albumidee ja gar nicht unbedingt verträgt oder braucht, umzusetzen. Und Decay ist auch das erste Album von mir, mit dem ich 100 Prozent zufrieden bin. Dass es so eine durchgehende Linie hat, liegt auch daran, wie ich es produziert habe. Es ist innerhalb von einem Monat unter Kopfhörern in Kyoto entstanden – mit Stücken, die ich innerhalb von einem Jahr in meinem Studio in Berlin aufgenommen hatte.
Wie genau lief das ganze Prozedere?
Vor zwei Jahren habe ich angefangen, mir ein neues Studio zu bauen, das im vergangenen Jahr endlich fertig geworden ist. Das war sehr anstrengend, hat sich aber gelohnt und ist jetzt ein wunderschöner Ort. Dort hatte ich bis letzten September Musik aufgenommen, aber nichts wirklich fertig gestellt. Auf meiner Festplatte lag dann ein Wust an Skizzen und ewig langen Tracks. In Kyoto haben wir es uns erst einmal gut gehen lassen und dann …
Zur Erklärung: Du warst mit deiner Freundin Hanna Schwarz für drei Monate in Kyoto, weil ihr ein Stipendium vom Goethe Institut erhalten habt.
Richtig. Hanna ist bildende Künstlerin und arbeitet im Bereich Film und Skulptur. Wir haben uns für ein Filmprojekt beworben und diese Residenz bekommen. Wir waren in Japan dann viel am Reisen, wobei ich eine Art Produzent und Kamera-Assistenz war und viel am Soundkonzept gearbeitet habe. Das Projekt ist aber noch lange nicht abgeschlossen, weil Japan ein schwieriges Terrain zum Filmen ist. Da kann man nicht so einfach eine Kamera aufbauen und losdrehen. Ich habe dann die Gunst der Stunde genutzt, die Ruhe, die wir dort hatten, die Abwesenheit jeglichen Club-Kontexts, um mich hinzusetzen und all dieses tolle Material durchzugehen. Ich habe so effektiv gearbeitet wie noch nie, die Tracks aus einem skizzenhaftem Loop-Zustand in eine festere Form gebracht, das meiste war einfach löschen. Und das ging sehr schnell, deswegen ist es vielleicht auch so ein konsistentes Album geworden.
Das Album erinnert an zwei Techno-Künstler, die ebenfalls sehr gute Alben produziert haben: Robert Hood und Jeff Mills. Sind die beiden auch speziell wichtig für dich?
Das geht natürlich runter wie Öl, das sind auch meine Helden. Von Jeff Mills habe ich gerade in letzter Zeit die alten Sachen wieder wahnsinnig viel gehört und gespielt. Ich finde seine „Something’s In The Sky“-Releases total irre. Vor ein paar Jahren sollte ich im Fuse Club in Brüssel nach ihm spielen und ich wusste erst gar nicht, was ich machen soll, nachdem ich ihm eine Stunde zugehört hatte. Das war eine Art Lähmung, meine Musik kam mir so irrelevant im Vergleich zu seiner vor. Der hat eine Stunde weitestgehend nur Glockengeläut ohne Beat miteinander verwoben, das war mit das Verführerischste, was ich je gehört habe. Terry Riley vierzig Jahre weiter gedacht, unglaublich gut.
Ist es Zufall, dass nach deinem vorangegangenem Album „Chicago“ deine neue LP sehr nach Detroit klingt und Decay heißt?
Chicago hatte sich gar nicht auf Chicago House bezogen, sondern darauf, für was die Stadt Chicago in Bezug auf Kapitalismus und Moderne steht. Die meisten Leute haben dann gesagt: „Was, da ist ja gar kein Chicago House drauf!“, das war ja ein bisschen der Witz an der Sache. Detroit war bei Decay jetzt nicht meine erste Assoziation, auch wenn mir die Idee gut gefällt. Wobei das Cover ja auch nicht gerade nach Detroit ausschaut.
Woher stammt das Motiv, eine blau gefärbte Berglandschaft?
Es sind bearbeitete Fotos von mir, die ich vor dem Haus des Goethe Instituts in Kyoto gemacht habe. Kyoto liegt ja umringt von Bergen, sie sind omnipräsent und jeden Tag in einem anderen Blauton gefärbt. Ich habe auf einer Brücke täglich Bilder gemacht, unser Grafiker Till Sperle hatte dann die Idee, daraus eine Collage zu machen. Wir fanden die Anmutung von japanischer Seidenmalerei ganz schön, da gibt es ja auch Indigo-gefärbtes Seidenpapier. Ich hatte zuerst etwas Bedenken, ob es nicht zu nice wird, aber ich glaube inzwischen, dass es mein schönstes Plattencover ist. Es soll auch zu jedem Lied ein Video geben.
Also ein „visual album“ wie es Beyoncé gerade gemacht hat?
Hat sie? Mist, da ist sie mir zuvorgekommen. Dabei habe ich sie schon mal interviewt! Damals noch mit Destiny’s Child. Es war nicht mein bestes Interview, muss ich sagen. Wobei sie dann im Hotel für mich gesungen haben. Es gab zu der Zeit eine Compilation, auf der R&B-Stars Stücke von Phil Collins gecovert haben. Ich hatte etwas skeptisch nachgefragt, ob das denn nun wirklich sein müsste. Die Antwort war, dass sie anfingen mit den Fingern zu schnipsen und „Another Day In Paradise“ in einer Gospel-Version intoniert haben. Das war dann natürlich auch auf meinem Aufnahmegerät und wenn du dir die seltene Dial Katalognummer 10 anhörst, wirst du ein Sample davon hören.
Du hattest einige Jahre, unter anderem auch für Groove, als Musikjournalist gearbeitet. Warum hast du damit wieder aufgehört?
Ich bin 2001 nach Wien gezogen, um die Entscheidung zu untermauern, nur noch Musik zu machen. Dort habe ich ja auf der Hochschule für Musik und darstellende Kunst elektroakustische Musik studiert. Der Musikjournalismus brach dann einfach so weg, weil es mich zunehmend nicht mehr interessiert hat. Die Musikindustrie hatte sich zu der Zeit stark gewandelt, die Flüge wurden nicht mehr so gerne bezahlt und die Hotels wurden schlechter.
Professionelles Reisen machst du ja noch gar nicht so lange, deine DJ-Karriere hast du mit Anfang Dreißig verhältnismäßig spät gestartet.
Das war ja eigentlich auch gar nicht so geplant! Meine beiden Maxis „Just A Track“ und „Acid Bells“ sowie mein erstes Album kamen 2007 innerhalb von einem halben Jahr heraus. Dann war eine Riesenaufmerksamkeit da und es hat sich einfach so ergeben. Ich bin quasi so reingerutscht durch meine Produktionen. Es war nicht so, dass ich mir vorher immer gesagt habe: „Yeah, ich will jetzt ein DJ werden, der um die Welt fliegt!“ Daran musste ich mich zuerst noch gewöhnen.
„Und wenn man vor einer Horde Zugekokster steht, die immer noch mehr Energie einfordern, dann ist niemand falscher an der Stelle als ich.“
Was war daran das Herausfordernde für dich?
Ich bin ja super naiv in diese ganze Welt hineingeschossen worden und hatte eine Zeit lang das Gefühl in einer Art Maschine hin- und herbewegt zu werden. Manchmal war meine Performance gut, manchmal hatte es wenig damit zu tun, was ich eigentlich toll finde: einen dunklen Raum, gute Musik und ein paar Stunden in einer Realität, die eine andere ist als die da draußen. Und wenn man vor einer Horde Zugekokster steht, die immer noch mehr Energie einfordern, dann ist niemand falscher als ich an der Stelle. Aber genau das ist oft passiert, deshalb ist Decay auch wie so eine Art Korrektur für mich und eine Art Präzisierung meines musikalischen Interesses für ein paar Leute da draußen.
Wie kommen solche Missverständnisse zwischen DJ und Publikum zustande?
Nach „Just A Track“ haben mich viele Leute in einem House-Kontext verbucht, der aber in eine Richtung gegangen ist, die mich gar nicht interessiert. Damit hatte ich irgendwann ein Problem. Ich sehe das Ganze ja eklektisch, ich spiele House und Techno. Mich hat eine Festlegung nie interessiert. Ich bin jetzt auch bei Ostgut Booking und habe dort jemanden, der mich versteht und oft begleitet. Der hat mich wieder aus ein paar Kontexten herausgenommen, worüber ich sehr froh bin. Ich hatte in den vergangenen Jahren oft den Moment, dass ich vor Leuten stand, die nichts mit mir anfangen konnten und ich nichts mit ihnen. Es macht dann nicht mal Spaß, das Geld zu nehmen. Teilweise habe ich mich verbogen, das war das allerschlimmste, oder ich habe dann einfach mein Ding gemacht. Das fühlt sich aber auch komisch an, wenn du merkst, dass nicht mal der Promoter weiß, was du eigentlich machst, sondern es ihm nur um einen Namen geht, den er bucht, weil er denkt, dass er für irgendwas steht.
Die Ausgangsbedingungen für junge DJs, die heute anfangen, sind komplett andere als noch vor zehn Jahren. Würdest du gerne nochmal tauschen wollen?
Nein, auf keinen Fall. Die Energie, die man mit 25 hat, ist natürlich unfassbar größer als die mit 40. Anderseits habe ich jetzt eine größere Klarheit und Fokussiertheit. Mir ist klar geworden, wie anstrengend es ist, heutzutage jung zu sein. Und das hat vor allem mit dem Internet zu tun, ein Stress pur! Dieses Zugeballertwerden mit Information und Möglichkeiten ist immens. Ich habe gerade mit ein paar 18-Jährigen geredet, die tolle Techno-Musik machen und in Frankfurt leben. Die sind jetzt wieder bei Vinyl angekommen, nicht aus so einer reaktionären „Vinyl ist besser“-Haltung, auch wenn sie den Klang besser finden, sondern um so eine Art natürlichen Filter bei dem ganzen Release-Wahnsinn zu haben. Um die Irrelevanz ein bisschen auszublenden, das finde ich ganz geschickt. Viele Leute kennen die Erfahrung, ein ganzes Album von vorne bis hinten durchzuhören, ja gar nicht mehr. Oder auf eine Platte zu warten. Heute saugt man sich die Sachen aus so einem Forum raus und scannt das nur mal schnell durch – das mache ich ja selbst auch häufig genug, wenn ich Promos durchhöre. Wenn ich an mein eigenes Album denke, dann tut mir der Gedanke schon weh, da würde ich am liebsten etwas erfinden, was dieses Durchskippen verhindert. (lacht)
Das Interessante bei dir ist ja, dass du unterschiedliche musikalische Projekte hast, die du aber nicht unbedingt miteinander verbindest. Brauchst du den jeweiligen Fokus auf funktionale und nicht-funktionale Musik?
Ja, aber das ist für mich nicht nur positiv, und ich versuche die Pole momentan auch ein bisschen zu vereinen, das ist mein nächstes Ziel. Wenn man sich das erste Stück von dem Album, „Some Kind Of Up And Down Yes“, anhört, das auf jeden Fall mein Lieblingstrack auf der Platte ist, weil es zum ersten mal eine Art Symbiose aus meinen zwei Identitäten ist, die mich selbst total fasziniert, dann könnten die Drones auch ohne den Rest als eigenes Stück funktionieren. Und so war das eigentlich auch zuerst gedacht, für eine Drone-Platten-Edition für die Galerie Lüttgenmeijer. Dann haben sie sich plötzlich in einen Track eingeschlichen, der ursprünglich völlig anders angelegt war, ein Versuch von mir, wie Surgeon zu klingen.
Du wolltest also mal richtig losballern?
Das kann ich ja nicht so richtig, das ärgert mich total. (lacht) Obwohl ich letztens mit Marcel Fengler Musik gemacht habe und dachte, dass ich es von ihm lerne. Ich kann es aber immer noch nicht. Dabei liebe ich Geballer, es ist inzwischen auch das Tollste für mich im Berghain aufzulegen. Ich war ja nie ein Tänzer, aber ich liebe es einfach, mich in diesem Sound dort zu verlieren – es gibt einfach nicht besseres. Eine ähnliche Erfahrung hatte ich in Japan, da bin ich zwei Wochen lang jeden Tag mit einem Bus auf einen Berg in Ohara gefahren. Dort gibt es einen heiligen Tempel, in dem sich vor 1000 Jahren die Tendai-Sekte angesiedelt hat, die eine bestimmte Form von Buddhismus pflegt. Zum tausendjährigen Jubiläum kamen aus ganz Japan Abspaltungen der Sekte um dort ihre Sutren zu singen. Es gab dreißig Aufführungen, ich konnte an zwanzig davon teilnehmen – es war so irre!
„Das war so ähnlich wie wenn es im Berghain so richtig geil ist, wenn eine Luke Slater-Platte läuft und man denkt jetzt fliegt einem gleich das Hirn weg.“
Warum, wie kann man sich das vorstellen?
Du bist im Wald, dort steht ein Tempel komplett aus Holz. Man sitzt in einem Raum, der nach allen Seiten offen ist, und hört die Vögel, den Wind und den Regen. Dort sitzt man, dann kommen die Mönche mit ihren unglaublich schillernden Seidengewändern einen Weg hinunterprozessiert und singen eine Stunde unisono eine Melodie. Das ist dann aber nicht als Musik gedacht, sondern nur als Vehikel um ihre Sutren durchzusprechen. Ich saß teilweise neben einem Mundorgel-Spieler, der dermaßen mit so Differenztönen losgetrötet hat, dass mir die Ohren weggeflogen sind. Das ist das beste, was ich seit langem erlebt habe. Und das war so ähnlich wie wenn es im Berghain so richtig geil ist, wenn eine Luke Slater-Platte läuft und man denkt jetzt fliegt einem gleich das Hirn weg. Da muss man auch gar nicht in einem anderen psychedelischen Zustand sein, weil alleine der Sound schon so super ist. Ich liebe es total.
Efdemins Album Decay ist bei Dial erschienen.