Text: Jan Rödger
Erstmals erschienen in Groove 149 (Juli/August 2014)
Mit dem Hit „Sea Of Sand“ in der Hand und Sven Väth im Rücken erschien der Israeli Guy Gerber 2006 auf der internationalen Tanzfläche, doch nach seinem Weggang von Cocoon war es eine Weile still um ihn geworden. 2010 remixte er P Diddy, nun haben beide mit 11 11 ein ganzes Album zusammen aufgenommen. Erklimmt Guy Gerber gerade den Pop-Olymp? Einen Tag nach seinem siebenstündigen Set in der Panorama Bar sprachen wir mit ihm über den Spagat zwischen Pop und Underground, den Vorwurf des Ausverkaufs und dass es doch eigentlich ganz okay ist, der Typ irgendwo dazwischen zu sein.
Guy, Anfang April hast du gleich zweimal beim Coachella Festival gespielt, neben Künstlern wie Lana Del Rey, Pharrell Williams, Nas, Lorde oder den Pet Shop Boys. Spielst du bei solchen Veranstaltungen anders als zum Beispiel in der Panorama Bar?
Nicht wirklich. Natürlich spiele ich zum Beispiel auf einer Afterparty anders als in einem Club für 3.000 Menschen. Da meine Sets aber konsequent ohne große Hits aufgebaut sind, kann bei mir sowieso keiner einen Refrain mitsingen. Nur die wenigsten werden die Tracks erkannt haben.
Wie sieht es mit deinen eigenen Hits aus? Spielst du die auch nicht?
Sagen wir es so: Ich versuche es zu vermeiden, meine eigene Musik kenne ich einfach zu gut. Im Club möchte ich neue Klänge hören, nicht immer auf alten Sachen rumreiten. Ich spiele meine eigenen Titel meist nur, wenn ich darum gebeten werde. Ein extremes Beispiel ist ein Gig, den ich vor kurzem in Mailand hatte. Da kamen ständig Leute an und jeder wünschte sich einen anderen Track von mir. Und irgendwann war soviel Liebe im Raum, dass ich zu mir selbst sagte: Ignorier dein Set und spiele sie einfach! Also bekam die Crowd eine Stunde lang nur Produktionen von mir zu hören und es war fantastisch! Ich hatte Gänsehaut und wusste, dass das auch allen anderen so ging.
Du trittst in vergangener Zeit auch nur noch als DJ in Erscheinung. Früher hast du sehr viel live gespielt.
Ja, das stimmt. Ich habe aber irgendwann den Spaß daran verloren. Es gab für mich einfach zu viele Unsicherheiten. Passt mein Setup zum Raum und der Atmosphäre der Veranstaltung? Und falls nicht, kann ich es mit meinen eng begrenzten Mitteln so gut wie möglich anpassen? Ich war mir einfach zu unsicher, zu verkrampft. Also begann ich wieder vermehrt aufzulegen, ich hatte ja auch schon davor viel aufgelegt. Aber mit der Live-Set-Erfahrung genoss ich das DJing auf einmal viel mehr! Als Live-Act spult man mehr oder weniger sein vorher geplantes Programm ab, aber als DJ kann man schnell Veränderungen auf der Tanzfläche aufgreifen und reagieren. Es ist impulsiver, offener. Meist sortiere ich mir nur Tracks für den Anfang vor und schaue dann, wo die musikalische Reise hingeht. Damit kam der Spaß zurück, ich begann wieder die Partys zu genießen und meine Karriere bekam zudem neuen Schwung. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, etwas beweisen zu müssen. Ich startete mit dem Laptop-DJing, wodurch man ja heute schon automatisch ein niedrigeres Ansehen als ein Vinyl-DJ hat. Als Laptop-DJ darfst du deshalb nicht nur normal oder okay auflegen – du musst unglaublich spielen! Was aber auch nicht immer möglich ist.
„Nur wer denkt, dass er nicht gut genug ist, entwickelt sich weiter.“
Du scheinst viele Bedenken zu haben, egal ob als Live-Act oder als DJ. Würdest du dich trotz deines Erfolgs als einen unsicheren Menschen bezeichnen?
Ich bin jedenfalls mein härtester Kritiker! (lacht) Dabei ist es wichtig, dass man sich selbst und das, was man tut, liebt. Da halte ich es wie Charles Bukowski. Der schrieb, dass ein Hauptproblem der modernen Welt ist, dass die sensiblen und intelligenten Menschen voller Zweifel sind und nur dumme Menschen vor Selbstbewusstsein strotzen. Aber als Künstler ist eine gewisse Unsicherheit auch notwendig. Nur wer denkt, dass er nicht gut genug ist, entwickelt sich weiter. Man muss sich selbst immer wieder herausfordern.
Und manchmal ist es in Ordnung, dumm zu sein?
Ja klar, manchmal ist es okay. Zum Beispiel war ich vor einiger Zeit in einem Spa in Begleitung von sechs Frauen mit denen ich zusammenarbeite. Für ein Foto versammelten sich alle um mich und nur für diesen Augenblick habe ich extra mein größtes Arschloch-Gesicht aufgesetzt. Das sah extrem prollig und chauvinistisch aus und wir haben alle extrem gelacht. Später dachte ich aber: Hm, kann ich das auf Facebook posten? Werden mich dann alle für genau das Arschloch auf dem Bild halten? Oder verstehen sie das Augenzwinkern? Denn es war ein wirklich lustiges Bild, mit einem grandios überhöhten Klischee. Ich sagte „Scheiß drauf“ und veröffentlichte es.
Und wie waren die Reaktionen?
Die Leute liebten es, es war einfach urkomisch. Einige Leute nannten mich natürlich ein Arschloch, aber das hatte ich ja auch so erwartet. Was für ein herrliches Star-DJ-Klischee! (lacht)
Magst du Klischees?
Im Allgemeinen mag ich Klischees. Nimm zum Beispiel New York: Es ist exakt so, wie man es aus den ganzen Filmen kennt. Bei Miami oder Los Angeles ist es ähnlich. Oder Rom. Oder Paris. Vielleicht sind das aber auch keine Klischees, sondern eher das, was man als klassisch bezeichnet. Bei der Musik versuche ich es ähnlich zu halten: Ich mag eher klassisches Zeug, weil es zeitlos ist. Nimm zum Beispiel die Beatles – sie klingen zeitlos, weil sie ohne viele Effekte und Nachbearbeitung auskamen. Von dem ganzen modernen, mit Effekten überladenen Zeug wird nur sehr wenig zeitlos sein.
Du hast die vergangenen vier Jahre mit P Diddy zusammengearbeitet, euer gemeinsames Album „11 11“ ist jetzt fertig. Wie kam diese ungewöhnliche Kooperation zustande?
Er hat tatsächlich einen meiner Tracks gesamplet. Ohne zu fragen. Und kontaktierte mich daraufhin. Er wollte mich treffen und mehrere Remixe in Auftrag geben. Also lud er mich zu sich ein. Ich flog nach New York, jemand holte mich vom Flughafen ab und plötzlich war ich in diesem riesigen Studio voll von fremden und skeptisch dreinblickenden Menschen. Das war eine total kafkaeske Situation, denn P Diddy selbst war nicht da. Ich hatte Seth Troxler im Schlepptau und fragte mich, was ich dort eigentlich sollte. Irgendwann rief P Diddy im Studio an und sagte: „Spielt ihm das Inspirationslied vor!“ Sie legten „The State Of Change“ auf, den ersten Track meines Albums Late Bloomers und ich war erstmal baff. P Diddy hat diesen Track an all seine Produzenten geschickt, er war eine Inspiration für sein Album Last Train To Paris! Und nun saß ich in diesem Studio und probierte einfach los. Ich baute einen Beat, der sich an das anlehnte, was P Diddy so liebte. Aber ich fühlte mich andererseits auch unwohl, weil mich so viele Menschen beobachteten. Ich bin kein Toningenieur und ich weiß auch nicht exakt wie jedes einzelne Plugin funktioniert, beim Komponieren und Produzieren mache ich einfach mein Ding. Also nahm ich den halbfertigen Track mit und machte alleine weiter.
„P Diddy kam rein, riss die Lautstärke auf und sagte: ‚Du Genie, genau so habe ich mir das vorgestellt!‘“
Am nächsten Tag war ich endlich mit P Diddy im Studio verabredet. Als ich das Arrangement des Vortags öffnen wollte, sagte mein Rechner nur „Datei beschädigt“. Da war ich einem Herzinfarkt nahe und sagte zu ihm: „Tut mir leid. Gib mir einfach eine halbe Stunde und ich mache das Arrangement komplett neu.“ Zum Glück hatte ich alles aufgenommen und musste nur erneut etwas herumprobieren und neu arrangieren. P Diddy verließ das Studio und genau zu dem Zeitpunkt seiner Rückkehr lud ich gerade ein Acapella in Ableton. Normalerweise gleicht das Programm ja bei allen Samples die Geschwindigkeit auf die eingestellte BPM-Zahl an, doch bei Acapellas weiß Ableton nicht so recht, wie es diese interpretieren soll. Auf alle Fälle klang es ziemlich schräg, mal beschleunigt, mal abgebremst. Die Lyrics haben mich auch nicht angesprochen, also habe ich sie zerstückelt. P Diddy kam rein, schritt geradewegs zum Mischpult und riss die Lautstärke auf: „Du Genie“, sagte er, „genau so habe ich mir das vorgestellt!“
Hat er dir auch vorgeschrieben, was du zu tun hast?
Anfänglich wollte er schon, dass ich die Remixe zu fetten Clubhits mache. Oder zumindest etwas kommerzieller. An so einem Punkt muss man natürlich genau abwägen, ob man das will. Dann wären für mich im US-Popbereich wohl noch ein paar Türen mehr aufgegangen. Ich überzeugte P Diddy jedoch, etwas Verrückteres zu machen. Etwas für die Afterparty. Für einen EDM-Megamix war ich der falsche Mann.
Stream: 11 11 (Guy Gerber & P Diddy) – My Heart
Wie lief die Zusammenarbeit für das Album „11 11“? Habt Ihr etwa gleich viel daran gearbeitet?
Nein, eher neunzig Prozent ich und zehn Prozent er. Aber er war in alle Schritte eingebunden und hat mir ständig sein Feedback gegeben. Ich würde ihn als Motivator bezeichnen. Zum Glück ist er auch sehr direkt in seiner Kritik, wenn etwas scheiße klang, hat er es sofort gesagt. P Diddy wollte es immer noch einen Schritt abgedrehter als ich, denn ich wollte etwas Harmonisches und Schönes erschaffen.
Die Remixe hast du 2010 für ihn gemacht, in dem Jahr begann auch die Zusammenarbeit an „11 11“. Warum habt ihr ganze vier Jahre bis zur Veröffentlichung gebraucht?
Einerseits waren wir ständig unterwegs und konnten nur selten richtig zusammen arbeiten. Andererseits war es für mich aber auch ein Spaßprojekt ohne Druck, an das ich mich immer mal gesetzt habe, wenn ich Zeit und Lust hatte. Rein künstlerisch war das Projekt ein riesiger Spaß! Ohne Zeitdruck und Marketingplan im Rücken und mit Zugang zu diesem fantastischen Studio. Ich konnte jeden Synth wählen, den ich wollte. Dort gab es einfach alles. Anfang des Jahres sagte ich dann aber zu ihm, dass wir mal länger zusammen abhängen müssten, um das Album fertig zu stellen. Für mich ist es sehr einfach, Musik zu komponieren. Ich habe immer ein paar Ideen im Kopf. Aber ich wollte nicht die ganze Nacht alleine an etwas arbeiten, nur um dann am nächsten Morgen von ihm zu hören, dass er es nicht mag. So eine Arbeitsweise mag ich nicht. Und es brauchte auch eine Weile, bis er meine Herangehensweise vollständig verstand. Wir trafen uns beim Burning Man Festival und er hörte das erste mal live ein DJ-Set von mir. Er war überrascht, wie deep ich auf diesem Megaevent spielte. Der ganze EDM-Zirkus ist schrecklich in den USA, allerdings sehe ich dort gerade auch eine Bewegung: In der Regel kommen DJs oder Produzenten aus dem Untergrund und werden irgendwann kommerziell. Dort passiert gerade das Gegenteil: Langsam verstehen die Menschen dort, dass auch Deepness sehr mächtig sein kann. Man muss nicht die ganze Zeit voll auf die Zwölf gehen. Die Leute verstehen immer mehr, wie etwa ein Seth Troxler auflegt, das finde ich ziemlich interessant.
Stream: 11 11 (Guy Gerber & P Diddy) – Tourist Trap
Glaubst Du, dass der Erfolg von EDM auch mehr Interesse an den Wurzeln der Musik hervorruft?
Ja, ich denke schon. Bevor EDM so riesig wurde, wussten viele Amerikaner nichts über den Underground. Ich meine, sie alle haben Detroit und Chicago mehr oder weniger vor der Haustür und dennoch weiß kaum einer, was dort für Wurzeln liegen. Jetzt beginnen sie langsam zu verstehen, dass ein starker Track nicht unbedingt mit Effekten und Geräuschen vollgestopft sein muss. Wenn man eine starke Atmosphäre erzeugt, dann muss man nicht alles bis ans Limit komprimieren.
Hattest du eigentlich keine Zweifel an der Zusammenarbeit mit P Diddy? Dass man dir etwa den großen Ausverkauf vorwirft?
Das ist ja auch passiert. Ich habe mich aber nie ausverkauft, meine Musik kam immer zu einhundert Prozent von mir. Auch die Zusammenarbeit sehe ich weniger als Karriere-Entscheidung, es war eine künstlerische Entscheidung. Ich mache eben das, worauf ich Lust habe und nicht das, was andere mir vorschreiben wollen. Ich fühlte mich wohl mit P Diddy, also machte ich diese Platte. Jeder will diese Platte noch vor dem Hören hassen. Aber nach dem Hören werden sie überrascht sein, weil es absolut nicht den Erwartungen entspricht. Ich fordere gerne Menschen heraus, denn warum soll ich jedem genau das geben, was er will? Klar, es ist einfach auf Facebook zu schreiben „Swedish House Mafia sucks!“ Stimmt ja auch und – zack! – klicken alle auf den Like-Button. Aber das ist so offensichtlich! Nicht so offensichtlich ist es, so wie ich noch sein eigenes Ding durchzuziehen, wenn man Musik in einem extrem kommerziellen Umfeld macht. Entweder man rennt ständig den Trends hinterher. Oder man bleibt an seinem Platz, die Welt dreht sich weiter und stoppt irgendwann genau da, wo du schon die ganze Zeit warst.
Du hast mit Rumors vor kurzem eine neue Partyreihe und ein neues Label ins Leben gerufen. Gibt es da ein Konzept?
Zuallererst mag ich den Namen einfach, er macht Spaß! Rumors! Ich mag Gerüchte. (lacht) Es steckt aber auch mehr dahinter: Wir wollen kein großes Marketing betreiben, es gibt keine Flyer mit dem Line-up oder große Ankündigungen. Die Partys werden im Plan Be auf Ibiza stattfinden, einer Outdoor-Location mit viel Flair. Es soll ein wenig zurück zu den Hippiewurzeln gehen, ich will ein bunt gemischtes Publikum, maximal 1500 Leute. Es soll ein Ort für Qualität werden, wo die Leute immer wissen, dass die Partys gut werden. Die Idee dazu kam mir vergangenen Sommer, als ich im Pacha meine Party hatte. Wir hatten so gut wie kein Marketingbudget. Ich wollte außerdem Seth Troxler, tINI oder Cassy buchen und konnte es nicht. Es hieß: „Wenn ihr bei Guy spielt, buchen wir euch nicht woanders auf Ibiza.“ Also entschied ich mich für etwas anderes – du kannst die großen nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich entschied mich, die Leute wieder etwas herauszufordern und lud Acts wie Four Tet, Chromatics, Delano Smith, DJ Tennis und sogar Actress ein. Stell dir vor: Actress im Pacha! Es lief zwar schlecht, aber im Endeffekt sprachen alle über meine Partys – auch ohne Marketingbudget.
Stream: Guy Gerber & Dixon – No Distance
Die erste Veröffentlichung auf Rumors war von Dixon und dir, außerdem gab es einen Remix von Lake People. Wie kam es zu dieser Platte?
Dixon ist mein Lieblings-DJ und Lake People ist mein Lieblings-Produzent im Moment. Ich kann dir gar nicht sagen wie sehr ich Lake People liebe! Ich hörte den Track „If“ auf Kann Records als erstes von ihm und habe mir dann alles besorgt, was er veröffentlicht hat. Ich mochte einfach alles und habe ihn gleich kontaktiert.
Stream: Lake People – Night Drive (Preview)
Auf der einen Seite P Diddy, auf der anderen Lake People. Ist das nicht ein unglaublicher Spagat?
Nein, denn beide sind immer noch hungrig und voller Energie. P Diddy hat einfach alles und ist immer noch neugierig auf Neues. Lake People ist für mich ebenso inspirierend, durch ihn bleibe ich auch immer up to date. Spagat? Tja. Für den Underground bin ich jetzt wohl der, der mit P Diddy kollaboriert hat. Vielleicht bin ich deshalb auch an manchen Orten nicht mehr willkommen. Aber umgekehrt denkt der Umkreis von P Diddy: Wer zum Teufel ist dieser Typ? Und was macht er hier bei uns? In gewisser Weise bin ich der Typ irgendwo dazwischen. Aber das ist okay so.
Das Album 11 11 von Guy Gerber und P Diddy ist als kostenloser Download erschienen.