Die ganze Problematik wird noch verschärft, wenn, wie es bei Clubmusik der Fall war, das Genre immer populärer wird und somit noch mehr Weiße die Musik produzieren und sich ohne Reflexion an schwarzer Ästhetik und Symbolik bedienen. Das gibt es auch im Hardcore zuhauf, vor allem „in manchen der ersten Hardcore- und frühen Rave- und Gabber-Tracks ist es ein großer Teil davon“, sagt Kilbourne. Sie erzählt vom Hardstyle-Duo Gunz For Hire: In deren Musikvideo zum Track „Armed & Dangerous“ fliegt man durch ein Kaleidoskop aus Waffen. Der Text dazu ist „drug dealing, stealing, money money“, andere Tracks tragen Titel wie „Brooklyn“ oder „Los Angeles“ – die beiden inszenieren sich als waschechte Gangster und präsentieren sich als Teil einer „imaginierten Macho-, als schwarz codierten HipHop-Kultur“. Dabei sind sie beide weiße niederländische DJs, von L.A. ziemlich weit entfernt. Gunz For Hire sind dennoch ungeheuer erfolgreich: „Es gibt einen ganzen Markt für sowas in Hardcore.“ Wegen solch fragwürdiger Inszenierungen und Inhalte (oder ihres Fehlens) ist Hardcore bis vor kurzem wohl auch die Massennische geblieben, die es lange war. Aber deswegen entstehen nun auch die neuen Räume, Gruppierungen und Tendenzen. „Ich versuche mir in meinen eigenen Handlungen einen Raum vorzustellen und zu realisieren, der etwas besser ist als das, was wir hinsichtlich Politik und Gender in der Szene geerbt haben“, sagt Kilbourne, nachdem sie tief ausgeatmet hat.
Stream: The Mover – Undetected Act From The Gloom Chamber (Preview)
Allerdings bilden sich nicht nur neue Gruppen, die Hardcore zurückbringen. Es gibt auch den umgekehrten Weg: Marc Acardipane, der Godfather Of Hardcore und fast doppelt so alt wie Kilbourne, ist durch sein Techno-Alias The Mover in letzter Zeit wieder vermehrt im klassischen Clubkontext unterwegs. Dort beobachtet er eine Tendenz zu mehr Härte und Rave, das Publikum will wieder seine alten Sachen hören. Zunächst war er überrascht, wie gut das ankam. Inzwischen schätzt er die Technoszene vor allem im Gegensatz zum niederländisch kommerzialisierten Hardcore-Entwurf sehr: „Musik lebt durch Emotionen und Leidenschaft, die leider in der neuen ‚klassischen‘ Hardcore-Musik verlorengegangen, aber in der Technoszene wieder auferstanden ist.“ Wie mühelos und positiv gestimmt sich Acardipane mit seinen verschiedenen Alias’ zwischen Hardcore und Techno bewegt, macht Hoffnung. Denn Kilbourne warnt davor, sich zu sehr von der Vergangenheit zu distanzieren: „Du musst an der Kritik von dem, was vor dir kam, beteiligt sein.“ Für den Moment hat sich diese Gefahr noch nicht bestätigt. Die großen Akteure im Hardcore-Update wie Casual Gabberz oder Gabber Eleganza (das aus einem Blog über Gabber entstand) haben alle ein starkes Bewusstsein für Kultur und Historie ihres Genres. Die alten Akteure wie Acardipane oder Darkraver mischen weiterhin mit, vergessen das Alte aber nicht, ohne sich darüber zu definieren.
Mit zunehmender Popularisierung kann sich dieser relativ ausgewogene Zustand natürlich verändern. Mit der Hipness kommen auch die oberflächlichen Fans. Kilbourne zumindest versucht sich mit einem positiven Ausblick: „Ich hoffe einfach, dass wir gemeinsam der Musik Tribut zollen, die davor kamen, und sie einfach voll ausleben. Und sie nicht einfach als ein Witz behandeln.“