Das instrumentaler Pop noch schmutziger, noch gröber und noch primitiver zusammengestoppelt geht, das demonstriert ausgerechnet der deutsche Großschauspieler Lars Eidinger. I’ll Break Ya Legg (!K7, VÖ 10. November) greift die Fäden von Illbient und instrumentalem Hip Hop der frühen Neunziger Jahre auf und verschmuddelt sie in einer Lo-Fi Behandlung aus schlecht montierten, unsauber geschnittenen Samples, die sich definitiv nicht so oft gewaschen hat. Für eine Platte die mit viel Bohei (so hat etwa das Cover vom Großfotograf Juergen Teller geschossen) bei einem Semi-Mainstreamlabel erscheint, zeigt da trotz allem Großkunstwollen und egophiler Zwangshipness noch ganz schön viel Stinkefinger raus. Respekt! Und was die „Fuck You!“-Attitüde angeht setzt das Londoner Duo patten da gerne noch einen drauf. Auf der Requiem-EP (Warp) hauen sie so lange auf Beats, Synths und Gesang dass von den netten Trip-Hop oder R&B-Songs, die da vielleicht mal an Anfang standen, nur noch kleine grauschwarze Noise-Trümmer übrig sind.


Video: Patten – Amulet

Eine der irrwitzigsten aber zugleich auch aufgeräumtesten musikalischen Mischformen mit Anspruch auf Avantgarde-Modernität hat der Japaner Sugai Ken im Laufe der vergangenen acht Jahre entwickelt. Sein fünftes Album UkabazUmorezU (RVNG Intl.) geht von der japanischen Klassiktradition Gagaku aus, eine für sich genommen schon hochartifizielle und disruptive Art der Klangorganisation, die von Sugai dann noch digital verfremdet und mit Hilfe der europäischen Neuen Musikavantgarde, Elektroakustik und Ideen des Free Improv weiter abstrahiert wird. Das klingt beim unbedarften Erstkontakt vielleicht fürchterlich anstrengend und kompliziert, ist es aber kein bisschen. All das abrupte klappern, fiepen und brummen findet organisch zusammen zu einer grandiosen und tatsächlich völlig unerhörten Hybrid-Electronica, die trotz all ihrer Atonalität ganz wunderbar leicht und allgemeinverständlich ist und so problemlos als Ambient fungieren kann. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem massiven Output des Portugiesen Rafael Toral. Er konstruiert hyperkomplexe immersive Klangsphären aus Modularsynthesizern, die er mit selbstgebauten 3D-Controllern virtuell im Raum ansteuert. Moon Field (Room40) verfolgt seriöse Klangforschung und radikale Improvisation, ist aber eben auch fröhlich fiepender Space-Ambient.


Video: Sugai Ken – UkabazUmorezU – Wochikaeri to Uzume

Das Duo/Paar Tania Gallagher und Bart Demey aus der kleinen belgischen Provinzhauptstadt Gent war als Galacticamendum oder „Nid & Sancy“ bisher in Sachen Breakcore und Electropunk unterwegs. Ihr jüngstes Projekt Gamelan Voices behält ihre handfeste aber dabei immer clever-ironische Sichtweise musikalischer Genre-Eigenheiten bei, wendet sie allerdings auf New Age und allerlei tribale und esoterische Klänge an. Ihr Debütalbum I (Gong Ear) ist so erfüllt vom Klopfen und Bimmeln, Gongen und Klimpern des Ambients der alten Schule. Was die Gamelan Voices aus diesen Vorbildern machen hat allerdings nicht mehr viel mit den gemütlichen Soundscapes von Brian Eno oder Laraaji zu tun. Die leidenschaftslose Gefälligkeit von New Age- und Fourth World-Klängen ist bei ihnen zu etwas latent bedrohlichem geworden. Sie haben die artifiziellen Schamanensounds und die harmlose Kiffer-Esoterik des Genres an den Rand des Umkippens in eine entfremdete Drogen-Paranoia getrieben, und doch ein Augenzwinkern behalten.


Stream: Gamelan Voices – Mentawai

Im Januar-Motherboard war es noch ein solides Gerücht, jetzt liegen schon die Ergebnisse vor. Die vermutlich sympathischste Ehepaarband der Welt, die japanischen Tenniscoats haben ihren kurzen Deutschlandbesuch im Dezember vergangenen Jahres neben zwei Konzerten in Köln und in München auf dem Alien Disko-Festival dazu genutzt ein Album mit ihren hiesigen Begleitmusikern von The Notwist und Jam Money aufzunehmen. Dieses haben sie nicht wie damals noch angedacht in ihre offene Music Exists-Reihe eingebunden, von der inzwischen auch der dritte, 2016 mit den schwedischen Improv-Jazzern von Tape und dem Fire! Orchestra aufgenommene Teil Music Exists Disc 3 auf dem Notwist-Label Alien Transistor wiederveröffentlicht wurde, sondern als separates Bandprojekt Spirit Fest in etwas größerem Rahmen auf Morr Music herausgebracht. Und das macht Sinn, denn auf dem gleichnamigen Album Spirit Fest (VÖ 11. November) hat der superoptimistische Lo-Fi Minimal-Pop der Tenniscoats den Melancholiefilter von Markus Acher und Co. durchlaufen und dabei an Tiefe und Komplexität gewonnen. Der unmittelbare Zauber, die unschuldige Schönheit der immer noch typischen Tenniscoats-Songs ist dabei nicht verloren gegangen. So ist Spirit Fest ein ganz großes kleines Pop-Album geworden.


Video: Spirit Fest – Hitori Matsuno

Ebenfalls auf Morr Music und ebenfalls ein tolles minimalistisches Pop-Album ist das Solodebüt der Italienerin Leila Gharib alias Sequoyah Tiger. Auf Parabolabandit (Morr) zieht die ehemalige Sängerin der Veroneser Indie-Rocker Bikini The Cat einen theatralischen Freeform Electro-Pop auf, der sich zwischen den feinen Solowerken von Beth Ditto und Sophia Kennedy nicht verstecken muss. Der typische Sequoyah Tiger-Song will einerseits unmissverständlich große wie einfache Popmusik sein, ist anderseits aber von nerdigen Sechziger-Jahre nostalgischen „Studio als Instrument“ Frickeleien charakterisiert. Das gibt ihren Stücken eine interessante Spannung, die sie stark macht.


Video: Sequoyah Tiger – Parabolabandit – Cassius

Jede Veröffentlichung des in Paris lebenden Mexikaners Cesar Urbina alias Cubenx ist eine kleine Wundertüte für sich. Seine Tracks fächern eine Vielzahl von Stimmungen auf, sie können in rascher und kontrastreicher Folge zu tiefenentspanntem Ambient, sonniger House Music, Shoegaze-Pop, avancierter Synthesizerspielerei oder rohem Electro werden. Sein drittes Langalbum Fractal City (Infiné) kennzeichnet eine konzeptuelle wie praktische Hybridisierung auf mehreren Ebenen. Inhaltlich geht es wie der Titel andeutet (nach dem Buch von Michael Batty, einem modernen Klassiker der Architektur- und Stadtplanungstheorie), um Urbanität, den Verfall und mögliche Rückgewinnung des öffentlichen Lebens. Auf der Produktionsseite steht die Musik als Kollaboration mit dem Algorithmen-Künstler Maotik in einem multimedialen Rahmen und ist mit Hilfe generativer Patches und maschineller Intelligenz eine Art musikalischer Cyborg, der auf der affirmativen Ebene von Ambient über IDM-Electronica zu nebelgrauem Techno im Actress-Style wieder weit und breit über jede Art von Genre hinausgreift.


Video: Cubenx – Flow (Immersive Installation)

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