burger
burger

Zeitgeschichten: Jean-Michel Jarre & Vangelis

- Advertisement -
- Advertisement -

Der kommerzielle Erfolg der Synthesizer-Musik und ihre Assoziation mit langhaarigen „Progressiven“ war der Grund dafür, dass Keyboards bei den meisten Punkrockern verpönt waren. „Technoflash“ lautete die wenig schmeichelhafte Bezeichnung des NME für das Genre, wobei sich das „flash“ sowohl auf die prahlerischen Darbietungen fingerfertiger Virtuosität als auch auf die übertriebenen Bühnenkostüme und teuren Lichtanlagen bezog, die Prog-Rocker wie Rick Wakeman oft zur Schau stellten. Als 1978 das zweite Wire-Album Chairs Missing erschien, veranlassten die Synthies darauf einen Kritiker zu der Beschwerde, man sei innerhalb von weniger als einem Jahr von Pink Flag zu Pink Floyd mutiert. Etwa zur selben Zeit erschienen diverse Synthesizer-basierte Singles aus dem Post-Punk-do-it-yourself-Underground – „Being Boiled“ von Human League, „Warm Leatherette“ von The Normal, „United“ von Throbbing Gristle –, doch diese Bands legten großen Wert darauf, nicht mit den Cosmic-Synthie-Bands in Verbindung gebracht zu werden.

The Normal – also Daniel Miller, der Gründer von Mute Records – beklagten, dass das Problem an den meisten Keyboardern darin bestand, dass sie den Synthesizer wie ein Klavier spielten, statt ihn als eine Maschine zur Lärmerzeugung zu betrachten. Und doch war Miller wenige Jahre zuvor ein riesiger Klaus Schulze-Fan gewesen. Selbst Human League hatten 97-minütige Klanglandschaften wie Last Man of Earth aufgenommen, nur wenige Monate bevor sie mit „Being Boiled“ auf den Popkurs einschwenkten. 1978 war es jedoch höchst wichtig, jeglichen Anflug von Hippie-Assoziation zu vermeiden. So wurden „Trans Europe Express“ und „I Feel Love“ als Offenbarungen genannt, doch niemand wollte Jean-Michel Jarres “Oxygène IV” Tribut zollen, ein globaler Superhit zur selben Zeit, als „I Feel Love“ weltweit die Spitze der Charts erklomm.


Stream: Jean-Michel Jarre – Oxygène IV

Dem konventionellen Pop kam in der Space-Musik niemand so nah wie Jarre. Die flotten programmierten Drums und melodiösen Synthie-Läufe machten seine Musik so zugänglich und eingängig, während das Genre ansonsten der Ambient-Stimmungsmusik näher war. Durch das Ersetzen eines treibenden Pop-Backbeats durch friedlich pulsierende Rhythmen oder amorphe Texturschichten war es eher dafür konzipiert, sich in Rückenlage, auf dem Sofa und meistens auch stoned Filme auf das innere Auge zaubern zu lassen.

Jarres Heimatland Frankreich war das europäische Land, das den neuen elektronischen Rock am leidenschaftlichsten feierte. Kraftwerk waren dort größer als in Deutschland, während Klaus Schulze dort zu einer Mainstream-Prominenz gelangte, die weit über den Status einer Kultfigur hinausging, den er anderswo genoss. Timewind von 1975 gewann den Grand Prix de Disque-Preis in der Kategorie „zeitgenössische Musik“, während Moondawn ein Jahr später eine Viertelmillion Käufer fand und sich in den Top 5 gleich hinter Pink Floyd platzierte. Es gab zahlreiche heimische Elektronik-Rockbands, Gruppen wie Clearlight und Heldon, aber niemand war bei der breiten Masse so angekommen wie Jean-Michel Jarre. Obwohl er als Student unter dem Musique Concrète-Pionier Pierre Schaeffer in der Groupe de Recherche Musicale (GRM) ursprünglich aus der Avantgarde kam, zielte Jarres Musik, eine Fusion aus der Melodieverliebtheit und Konzeptualität (das Album Oxygène bestand aus sechs Akten, „Oxygène I“ bis „Oxygène VI“) der Klassik des 19. Jahrhunderts sowie elektronischen Texturen und sequenzierten Rhythmen, direkt auf den Massenmarkt.

All die Prinzipien, nach denen Jarres Musik organisiert war – Thema, Variation, Harmonie, Euphonie, Kodas und Kontrapunkt –, stammten aus der Ära vor Zwölftonmusik, Atonalität, Varese und dem Rest der modernistischen Vorhut des 20. Jahrhunderts. Sein monströser Erfolg beruhte vor allem auf seiner geschickten Anwendung quasi-kitschiger Weltraumzeitalter-Patina auf im Wesentlichen die Musik der Generation seiner Eltern (und das im wörtlichen Sinne, denn sein Vater Maurice Jarre war ein berühmter Komponist bewegender und erhabener Soundtracks für Leinwandepen wie Lawrence von Arabien und Dr. Schiwago gewesen). Doch ebenso wie Kraftwerks nicht minder euphonischen Hymnen auf die moderne Welt („Autobahn“, „Trans-Europe Express“, „Computer World“ und der Rest) besaß Jarres Musik unbestreitbares Appeal und quoll über vor begeistertem Optimismus und Aufregung über Technologie, Raumfahrt und alles Futuristische. Diese naive Vorfreude auf die Welt von morgen sah schon Mitte der 70er etwas angestaubt und kitschig aus, aber sie war ein wichtiger Bestandteil der Populärkultur, bestätigt durch den Erfolg von Wissenschaftsmagazinen wie Omni, Futurologen und Wissenschaftsschreibern wie Alvin Toffler und Carl Sagan und extremeren Pseudowissenschaftlern, Beschwörern des Paranormalen und UFOlogen wie etwa Erich von Däniken.

Auf Oxygène folgte 1978 Equinoxe, ein rhythmisch treibenderes Album, das sequenzierte Basslinien verwendete und in 35 Ländern chartete, und dann The Magnetic Fields, ein Top 10-Album in jedem Land Europas. Durch rein instrumentale Musik war Jean-Michel Jarre zu einem der größten Popstars der Welt avanciert. Das Markenzeichen seiner Karriere, vielleicht noch verstärkt durch seinen weltweiten Erfolg (und seine Ehe mit Filmstar-Schönheit Charlotte Rampling), wurde ein Gigantismus, der sich an der Grenze zum trashigen Overkill bewegte. Nach einem Konzert in Paris 1979, das eine Million Fans auf die Place de la Concorde lockte, machte Jarre durch eine Reihe immer spektakulärerer High-Tech-Auftritte von sich reden. Er trat als erster westlicher Popstar in der Volksrepublik China auf, er spielte bei der Feier zum 25. Jubiläum der NASA in Houston, lud 1988 in London zu einem Riesenevent namens „Destination Docklands“ und spielte 1990 vor 2,5 Millionen Menschen im Pariser La Défense-Viertel. Der Höhepunkt dieser Serie von Megakonzerten, die immer wieder für Rekorde im Guinness-Buch sorgten, war ein Auftritt vor 3,5 Millionen Zuschauern bei der 850-Jahr-Feier in Moskau. Jarre wurde auch eine Ehre zuteil, die andere „Spacetronica“-Pioniere vor Neid erblassen ließ – die Benennung eines echten Himmelskörpers nach ihm, dem Asteroid 4422 Jarre.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

TSVI: „Es muss nicht immer total verrückt sein”

Groove+ In Porträt verrät der Wahllondoner TSVI, wie sein einzigartiger Stilmix entsteht – und wie er als Anunaku Festival-Banger kredenzt.

Time-Warp-Macher Robin Ebinger und Frank Eichhorn: Die Musik auf anderen, subtilen Ebenen erfahrbar machen

Groove+ Die Time Warp ist die größte Indoor-Techno-Party Europas, demnächst feiert sie ihren 30. Geburtstag. Wir haben mit ihren Machern gesprochen.

James Blake und die neue Plattform Vault: Beschiss mit Ansage

James Blake warb zuletzt ungewohnt offensiv für die Plattform Vault, die das Geschäft mit der Musik revolutionieren soll. Wieso das nichts wird, lest ihr hier.