Von der Idee her ist so ein urbaner Hinterhofbalkon der ideale Ambient-Spot. Eine halboffene, von zehn bis zwanzig Häusern verkapselte Hörzelle, die Gentrifizierung, Wohlstand und Hipsterbelegung des Wohnviertels ziemlich akkurat reflektiert. Die Praxis dieser akustischen Anthropologie ist allerdings ernüchternd. Kölsche Schlager aus den Kofferradios der verrenteten Post- und Bahn-Arbeiter deuten die Vorahnung einer herbstlichen Melancholie um in klebrig nostalgische Sentimentalität. Die geschärfte Aufmerksamkeit der lichten Restsommertage wird von Phrasen repetierenden Studenten der nahen Musikhochschule in Schleifen zerschnitten und von ostentativen Smartphone-Freisprechern noch weiter zerbröselt. Kommen dann noch juvenile EDM-DJ Mixversuche zum Grillen hinzu, hilft nicht mal mehr der den Innenhof kärchernde Freizeitverächter von schräg gegenüber, der jeden auch nur halbwegs sonnigen Wochenendtag zum akustischen Noise-Fegefeuer mutieren lässt. Dann doch lieber wieder nach drinnen, zum Ambient vom Profi.

Vor allem die menschliche Stimme, wenn sie zu etwas anderem als Gesang oder Vortrag rhythmisiert wird, hat die Macht den Anspannungslevel im roten Bereich zu halten, und dabei anregend wie faszinierend zu agieren. Traced (Sonic Pieces), das zweite Album der Berliner Australierin Jasmine Guffond (Jasmina Maschina, Minit) fängt diesen zutiefst urbanen Verschnitt von Stress und intensiver Lebendigkeit auf einzigartige Weise ein. Traced verbindet avancierte Klangsynthese, Stimm- und Soundmanipulationen mit den unbehaglichen aber angesichts der bedienfreundlich glatten Oberflächen schwer auszumachenden Spuren des immanenten Machtgefälles, der latenten Gewalt digitaler Massentechnologien. Von Big Data zu den nimmermüden digitalen Überwachungsszenarien, von Gesichtserkennung bis zu GPS-Bewegungsbildern weisen diese Klänge weit über die Fehlerästhetik von Glitch oder die Sample- und Beatschredderei von IDM und Co hinaus. Guffond gibt der modernen Welt der vermeintlich grenzenlosen Kommunikation, der Tag und Nacht über den Häusern kreisenden Drohnen, eine originäre Stimme. Es gibt keinen Grund zur Sorge.


Stream: Jasmine Guffond – Vision Strategy Coordinators

Fay Davis-Jeffers, ehemals Sängerin der Chicagoer Indie-Band Pit Er Pat, hat sich vor einiger Zeit im Technologie- und Medienhotspot Los Angeles niedergelassen und dabei die doch ziemlich traditionell anmutende Experimentierfreude ihrer Band in die Smartphone-Moderne übersetzt. Fay arbeitet auf ihrem zweiten, im Frühjahr erschienenen Soloalbum Deal (Time No Place) mit ihrer Stimme als praktisch einziger Klangquelle. Wie sie diese vervielfacht, zu digitaler Percussion und oboenartigem Tröten transformiert, hat eine minimalistische Strenge die sich im Vergleich mit den jüngsten Werken von Jasmine Guffond oder Holly Herndon eher nach alter Schule, wie etwa Matthew Herbert zu Zeiten von „Around The House“ anhört, aber gerade aus dieser makellosen Schlichtheit immense Kraft zieht.


Stream: Fay – Deal

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