Eine ganz andere aber ähnlich sanfte Art des musikkulturellen Durcheinanders kann sich aus dem artfremden Einsatz eines zwar hundertprozentig klassisch alteuropäischen und doch irgendwie immer sperrig und exotischen gebliebenen Instruments wie der Harfe ergeben. Mary Lattimore, klassisch ausgebildete Harfenistin aus Philadelphia, nutzt diesen impliziten Verfremdungseffekt maximal aus. Ihr Tape Collected Pieces (Ghostly International) versammelt sechs ausschweifende Tracks die es aus diversen Gründen nicht auf ihr offizielles Hauptalbum At The Dam vom vergangenen Jahr geschafft haben. Wenn das avancierte Resteverwertung ist, dann ist es aber eine Resterampe Deluxe, denn die versammelten Stücke sind qualitativ keineswegs minderwertiger als die offiziellen, eher im Gegenteil! Die Zeit die jeder der Tracks bekommt sich zu entfalten, in Wiederholungen und Spiegelungen zu wirken intensiviert nur ihre Schönheit und Zärtlichkeit. Dann stellt sich noch die Frage, ob im Zuge von Lattimores Erfolg nun endlich die große Reissue/Digger Wiederentdeckung des deutschen „World Music“-Harfenisten Andreas Vollenweider kommt? Zumindest von dessen 1982er-Album Caverna Magica? Ein vergessener Chillout-Meilenstein, der einen weichen Crossover von Harfe, afrikanischer Percussion und Oldschool-Ambient mainstreamfähig machte, und sich dabei nur ein wenig hinter den Zeitgenossen Eno und Co. verstecken musste.


Stream: Mary Lattimore – Wawa By The Ocean

Wenn ein zutiefst in der europäischen Improvisations- und Kompositions-Tradition verwurzeltes Ensemble der Musikavantgarde wie Zeitkratzer die Stücke der weißesten und deutschesten Elektronik-Combo der siebziger Jahre covert, dann ist es was den klanglichen Kolonialismus angeht wohl auf der sicherst möglichen Seite. Umso erfreulicher, wenn daraus dennoch interessante Ergebnisse hervorgehen: Zeitkratzer Performs Songs From The Albums “Kraftwerk” And “Kraftwerk 2” (Karlrecords) bringt die Songs der ersten beiden Kraftwerk-Alben in ein swingendes Big-Band Format, das nur hin und wieder von atonal fiependen Spitzen oder herabstürzenden Klavierclustern aufgescheucht wird. Kraftwerks auf den Alben mit den Verkehrspömpeln noch krautig mäandernder Groove gewinnt in Zeitkratzers zu orchestralem Großformat ausgedehnter Interpretation paradoxerweise eher noch an Schärfe. Die langhaarigen Flötensoli gehen verknappt und freejazzig intensiviert in eine Art avanciertes Easy-Listening-Format ein, das von Kraftwerk oder ihren zahlreichen Interpreten so definitiv noch nicht zu hören war.


Stream: Zeitkratzer – Megaherz

Wo Zeitkratzer sich von der „Neue Musik“-Avantgarde kommend Pop maximal angenähert haben, geht die ebenfalls orchestral und für ihr Genre ebenfalls prominent besetzte Dronerock-Band A Sun Amissa den entgegengesetzten Weg. Haben die bisherigen Alben der bis zu fünfzehnköpfigen Combo um die instrumentalen Alleskönner Angela Chan, Richard Knox, Aidan Baker, Frederic D. Oberland, Gareth Davis und Shield Patterns-Sängerin Claire Brentnall noch Idiome wie Dark Jazz und Postrock bedient, so gibt sich The Gatherer (Consouling Sounds) erfreulich frei und experimentell. Der Geist des unbelasteten Ausprobierens, der in sacht improvisierte, sich langsam und vorsichtig voran tastende Soundscapes führt, ist auch für das Duo von A Sun Amissas Aidan Baker & Karen Willems definierend. Auf Nonland (Gizeh, VÖ: 12. Mai) geben sich Willems free-jazziges Schlagzeug und Bakers zurückhaltende Gitarrenimprovisationen gegenseitig viel Raum und Zeit. Sie verzichten auf die großen Gesten des Orchesters und konzentrieren sich auf ihre ganz eigene Minimal-Variante von halbelektronischem Postrock. Das Ein-Mann Orchester Bryan Pyle alias Ensemble Economique legt seine musikalischen Ausschweifungen dagegen gerne etwas breiter an. Auch wenn alles im Laptop passiert weist ihn die instrumentale Fülle, die Experimentierfreudigkeit und der filmisch erzählende Gestus der Tracks seines zwölftes Album In Silhouette (Denovali) als Sound- und Geistes-Verwandten von großen Postrock-Bands wie A Sun Amissa einerseits und epischen improvisierenden Jazz-Rock Combos der siebziger Jahre andererseits aus.


Video: A Sun Amissa – Album Trailer

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