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Nachtiville 2015

Rückschau

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Fotos: Martin Lovekosi

Plattes Land, aufgeschüttete Deiche, trübes Nieselwetter – langsam schiebt sich der Bus über die holprigen Straßen irgendwo in der holländischen Provinz. Dann endlich: De Eemhof, ein kleinbürgerliches Urlaubsidyll irgendwo in der Nähe von Amsterdam. Der Fahrradverleih hat seine Fietsen schon winterfest eingelagert, lediglich fröhlich hoppelnde Häschen durchqueren die künstlich angelegte Teichlandschaft und Entenfamilien soweit das Auge reicht. Auf den ersten Blick wirkt das Bungalowdorf eher nicht wie eine Partylocation.

Knapp 3000 Besucher werden an diesem Wochenende zur ersten Edition des Nachtiville Festivals erwartet, die Veranstalter versprechen fünf Indoor-Stages, einen tropischen Swimmingpool, komfortable Bungalows und obendrauf noch ein fettes Line-Up. Leider wird auch die gestrenge Anti-Drogen-Politik sehr ernst genommen, so dass ein nahezu vollständiges Filzen aller einfahrenden Autos die Anreise spürbar verzögert. Aber davon lässt sich niemand die Laune verderben, aus dem Wagen vor uns wummern bereits knarzige Beats, ein Kerl mit Strohhut und Bierdose eröffnet neben dem Auto her tanzend schon mal die Partyparade und späht unauffällig in die Müllcontainer, in die man fairerweise seine Drogen werfen soll, bevor man das Festivalgelände betritt. Leider sind sie alle leer.

Der Cozy Bungalow, in dem man theoretisch ein 7-Gänge-Menü kochen könnte, entpuppt sich keineswegs als leere Versprechung. Als kleine Aufmerksamkeit liegt tatsächlich eine Flasche Jägermeister und Redbull im Kühlschrank – Ihr Nachtiville-Team wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt! Doch man ist ja schließlich auch nicht zum Urlaub machen hier und somit heißt es trotz 11 Stunden Anreise am Freitagabend: Kragen hochstellen und raus in den feuchten Herbstwind!

Wie erwartet fällt die Entscheidung nicht leicht. Soll man zu Atom TM + Tobias im riesigen „The Hall“-Floor stampfen, um sich vom Strobo, blitzenden Visuals und den Selfie-schießenden Partypeople direkt in Feiermodus versetzen zu lassen? Oder eher dem intelligenten Live-Set von Gesloten Cirkel in der fast ebenso großen „The Centre“ Stage lauschen, der düsteren Acid mit klassischem Detroit-Techno kombiniert? Schnell noch die letzte halbe Stunde von Aurora Halal im „The Joint“ mitnehmen. Diese kleinste der Mainlocations (deren Namen von der Ursprungsnutzung als Fahrradkeller herrührt und nicht von gängigen Hollandklischees) kristallisiert sich im Laufe des Festivals durch ihre rohe Kellerclubatmosphäre zur persönlichen Lieblingslocation heraus und bietet den optimalen Rahmen für den düsteren Dubtechno der New Yorkerin. Zurück ins “Centre” zum energiegeladenen Heimspiel von Legowelt, dessen obskure Mischung aus The Hague-Electronix, Slamming Chicago Jacks und Techno-Funk die Stimmung zum Kochen bringt. Pünktlich zur holländischen Sperrstunde um 5 Uhr ist der Spaß dann auch vorbei – zumindest offiziell.

Die eigentliche Party findet nämlich in den Off-Locations statt, zwei liebevoll mit Neontüll und Bravopostern aus den vergangenen drei Popdekaden tapezierte, sanierungsreife Bungalows, in denen die Nachtiville Crew zur farbenfrohen Afterhour lädt und selbst Hand an die Turntables legt. Ob „Precious Little Diamond“, „Always On My Mind“, Tom Tragos all-time-favourite Carl Craig Remix „Use Me Again“ oder der Hochzeitssong aus Werner Beinhart – hier darf man wirklich mit allem rechnen. Von distanzierter Bescheidwisser-Coolness und Crew-Only-Exklusivität keine Spur – Nachtiville ist Familie, und genau so fühlt es sich in diesem intimen Rahmen auch an.

Dass man es schaffen würde, am nächsten Nachmittag tatsächlich die Badesachen zu packen und im Erlebnisbad mit kindlichem Elan die Abenteuerrutsche herunter zu schlittern, kann sich in diesem Moment noch niemand so recht vorstellen. Hat man allerdings das letzte Restchen Contenance zusammen gekratzt und die Alkohlteststation der durchaus etwas überpräsent wirkenden Security am Schwimmbadeingang erfolgreich passiert (Safety First – alle über 0,4 Promille müssen sicherheitshalber im Bungalow ausnüchtern), kommt bei Manamanas gutgelauntem sechsstündigen Set im knietiefen warmen Wasser langsam echte Urlaubsstimmung auf. Weitere Höhepunkte des Samstags sind definitiv die allnighter Showcases von Giegling, Golden Pudel und Workshop, die mit Benjamin Brunn, Lowtec und Kassem Mosse gleich drei hochkarätige Live Acts in Folge präsentierten und der Crowd endgültige Kapitulation abverlangten – auf dem Nachtiville nichts zu verpassen, das ist schlicht unmöglich!

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Der Sonntag knüpft nahtlos an das Entscheidungsdilemmas des Vortags an. Nachdem Job Jobse tagsüber Klassiker wie Laurent Garniers „The Man With The Red Face“, cheesy Mash-Ups von Adele und den offensichtlichen Festivalhit „Gotta Let You Go“ von Dominica im Bicep-Edit im Pool versenkt hatte, ist man beständig zwischen Lena Willikens hartem Techno-Sound, Dollkrauts bluesiger Live-Performance, Randweg auf dem Ambientfloor, Optimo und Dekmantel Soundsystem hin und her gerissen. Aufgrund einer Reiseverspätung spielt Ben UFO schließlich überraschend das Closing-Set – und avanciert zum ultimativen Festival-Highlight. Er peitscht die Tanzenden mit dreckigem Drum’n Bass und energetischem Industrial ein letztes Mal zur endgültigen Ekstase – Stagediving inklusive – und bringt den besonderen Vibe des Festivals mit einem 15minütigen Jungle-Finale gebührend zum Abschluss.

Als kleine Schwester des Nachtdigitals, das als eines der besten europäischen Festivals gehandelt wird, war der Erwartungsdruck groß – das Nachtiville hat ihm standgehalten. Den Fokus klar auf dem stimmig kuratierten Liebhaber-Line-Up, das mit einer spannenden Mischung aus Altbekanntem, Neuentdecktem und Unerwartetem überzeugt, steht die Musik im Vordergrund und zieht die richtigen Besucher nach sich. Die kreative Umgestaltung des etwas partyfeindlich anmutenden, kleinbürgerlichen Bungalowkontextes, die enorm engagierte Festival-Crew, die selbst am meisten Spaß zu haben schien und die daraus resultierende entspannte familiäre Atmosphäre – all dies sorgten dafür, dass das Wochenende in einem bunten Wirbel unfassbar schnell vorbeirauschte.

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