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DYSTOPIAN Berlins neue Techno-Generation

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Text: Sebastian Weiß, Fotos: Michael Mann
Erstmals erschienen in Groove 149 (Juli/August 2014)

Von der Partyreihe zum Label zur Bookingagentur – in den vergangenen fünf Jahren ist Dystopian zu einer Marke gewachsen, die mit konzeptueller Bild- und Klangsprache ein neues Kapitel zur Geschichte Techno und Berlin hinzufügt. Verlassene Industriehallen, gesellschaftliche Schreckensvisionen und melancholische Gemüter treffen auf einen morbiden Sound, der sich mit seinen Querverweisen zu George Orwell, Blade Runner und Andrei Tarkovsky nicht nur vom apolitischen Hedonismus löst, sondern Eskapismus und Realismus zusammendenkt. Sebastian Weiß hat das gesamte Kollektiv zum Labelshowcase ins Amsterdamer Trouw begleitet und das Berliner Phänomen um Rødhåd, Recondite und Alex.Do beleuchtet.

 

Die Party läuft schon neckische 14 Stunden, da betritt der lange Kerl mit dem markanten Bart das DJ-Booth. Mit seinem in die Hose gesteckten karierten Hemd, dem dunklen Ledergürtel und der abgetragenen Jeans sieht er beinahe aus wie eine Mischung aus Ex-Punker und Rockabilly. Vergangene Nacht spielte er noch fünf Stunden in Bielefeld, jetzt steht er in Amsterdam vor einer wilden Horde Feierwütiger. Sein kurzer Blick auf den Floor verrät seine Müdigkeit. Trotzdem grinst er über beide Ohren und begrüßt seinen gerade auflegenden Freund Alex.Do mit wild herumfuchtelnden Armen und expressiven Tanzeinlagen. Während sich die beiden herzlich umarmen, raunt auf der Tanzfläche bereits vereinzelt der Name des Mannes durch die hedonistischen Reihen: Rødhåd. Zunächst geht es an die Bar. Alkohol? Lieber nicht, immerhin ist es nicht mal 15 Uhr und vor dem Berliner steht noch ein fünfstündiges Set, mit dem Rødhåd den ersten Dystopian-Weekender im Trouw, dem wohl besten Club der holländischen Hauptstadt, abschließen wird.

Mediterraner In-House-Garten

Im ehemaligen Gebäude der gleichnamigen Zeitungsdruckerei kommt ein großer Teil der Entourage einen Abend vorher zum gemütlichen Dinner zusammen. Draußen treffe ich die beiden Köpfe, mit denen Rødhåd 2009 Dystopian als Berliner Partyreihe gründete. Beide wollen seit Jahren weder mit Namen genannt noch zitiert werden, der Fokus soll einzig und allein auf den Künstlern liegen. Man grüßt sich, gibt sich die Hand, fragt nach dem Wohlbefinden. Alles ist sehr unaufgeregt, aber nicht abgeklärt. Der befreundete Grafiker Sebastian Manger, der die Anfangsarbeit von Tobias Donat fortführt, ist ebenso dabei wie Rødhåds Freundin, die sich als Einzige in der kollektiven Wer-Bin-Ich-Runde als Tänzerin vorstellt. Das Trouw vereint praktischerweise Club und Restaurant. Nach dem Eintritt fällt sofort die teils verglaste, teils offene Holzküche inmitten des Raumes auf. Gewürze, Weinflaschen, Obst-Boxen und Geschirr versperren nur marginal den Blick auf die beschäftigten, aber gutgelaunten Köche. So ein bisschen überkommt einen das Gefühl, man stünde in einem In-House-Garten. Von der Wand hängen üppige, grüne Pflanzen und kontrastieren den grauen Beton mit einem mediterranen Touch, der sich auch beim Essen wiederfindet.

 

 

Recondite und seine Freundin sind die ersten am Tisch. Wie die kleine Asien-Tour war? Zwiespältig. Der Gig in Seoul war super, tolle Atmosphäre, toller Gig, tolles Essen. Aber Tokio mit seiner Überfülle an kommerziellen Werbetafeln hat beim naturverbundenen Niederbayer keinen ausschließlich guten Eindruck hinterlassen. Am anderen Ende des Tisches sitzt mit Pär Grindvik und Sound Stream der erweitere Kreis von Dystopian. Die meisten hier kennen sich seit Jahren. Es wird zwar viel gelacht, aber auch diskutiert, ob sich heute jemand überhaupt noch für ein Carl Cox-Set interessiert, die japanische Bildungspolitik hinterfragt und die Vorzüge eines guten Burgers verhandelt.

Dass hier größtenteils Techno-Nerds sitzen, wird nur perifer offensichtlich. „Du musst unbedingt den Yamazaki Single Malt probieren! Der ist süß, schmeckt nach Honig und Vanille“, fordert mich Olaf Boswijk auf. Er ist der kreative Kopf hinter dem Trouw und ein Mann mit Geschmack. Gerade frisch aus seinen Flitterwochen wiedergekommen, erweist sich Boswijk als liebenswerter Gastgeber. Für ihn sind diese Weekender auch Neuland, sagt er. Das Trouw hat erst seit anderthalb Jahren eine 24-Stunden-Lizenz. „Eine Rarität in europäischen Großstädten.“ Er spricht von Transzendenz, wenn er über seinen Club redet. Freiheiten ausleben, Grenzen überschreiten, Regeln brechen – das volle Programm. Rødhåd war der erste von Dystopian, den er gebucht hat. „Er spielte hier im Dezember 2012 mit Sandrien. Wir hatten tolle Dinge von ihm gehört und er hat wirklich geliefert. Seitdem gehört er zu unseren Favoriten.“

Hardcore-Zeug & Gabber-Kram

Das niederländische Wort „trouw“ lässt sich mit Ehrlichkeit, Treue und Loyalität übersetzen. Wie das Interview zeigt, sind das auch einige der Pfeiler, mit denen der Pfad von Rødhåd gepflastert ist. Zwei Wochen vor dem Weekender treffe ich den 29-Jährigen vor seinem Berliner Studio. Der Kerl mit grüner Jogginghose, zugeknöpftem Polohemd und der obligatorischen Kippe im Mund stellt sich als Mike vor. Ein entspannter Tag soll es werden. Das Studio im eher unattraktiven Bezirk Lichtenberg liegt in einem alten Hinterhof-Haus. Kein Klingelschild, kein Briefkasten. Es ist ein kleiner Raum, unaufgeräumt und unpersönlich. Aber der Tisch, auf dem das große Mischpult liegt, ist neu und füllt eine Wand beinahe komplett aus. Der Blick aus dem Fenster offenbart DDR-Plattenbau-Romantik, die in Schwarz/Weiß-Optik an die puristischen Dystopian-Flyer erinnern würde. Drei Gigs vom letzten Wochenende stecken noch in seinen Knochen. 2014 gehört das zur Normalität, „wobei ich bis letztes Jahr noch in meinem gelernten Job als Bauzeichner beschäftigt war. Das Arbeiten in diesen exakten Parametern hat mich auch musikalisch geprägt, mir geholfen, mich zu strukturieren.“

 

Rødhåd

 

In den drei Jahren vor dem ersten Release 2012 spielte Rødhåd beinahe ausschließlich in Berlin. Als dann die ersten Gigs in Amsterdam, Mailand, Helsinki, New York und Paris hinzukamen, kürzte er zwar die Stunden in der Agentur, aber eine endgültige Trennung war nicht mehr abzuwenden. Er weint der Entscheidung zwar nicht nach, doch dass man im Streit auseinandergegangen sei, schmerze trotzdem. „Dafür lebe ich heute meinen Traum“, sagt der 1984 in Hohenschönhausen geborene Mike beinahe trotzig. Wenn man so will, wurde dieser Wunsch bereits im Alter von zwölf Jahren kreiert. Damals nahmen ihn seine Eltern in der Hochphase der Veranstaltung zur Loveparade mit. „In dem Alter bin ich Inline-Skates und BMX gefahren und hatte mit Techno nichts am Hut. Ich war ein kleiner HipHopper mit ’ner fetten Baggy-Hose unterm Arsch. Erst durch Freunde wurde ich darauf gestoßen und durch die Thunderdome-CDs, die in der Grundschule kursierten. Da war so Hardcore-Zeug und Gabber-Kram drauf“, erinnert sich Mike.

 

„Als alle nur noch Klicker-Klacker-Minimal hörten, habe ich mir Sachen von Maurizio und Basic Channel gekauft.“ Rødhåd

 

In der Pubertät geht dann alles ganz schnell: Eine Silvester-Party 1998 mit Westbam und Hardy Hard war der Auslöser, die ersten Tresor-Besuche und Open-Air-Raves außerhalb von Berlin die Inkubation und die BPitch-Nächte mit Paul Kalkbrenner, TokTok und seinem ehemaligen Lieblings-DJ Housemeister im Casino das endgültige Katapult. Klar, dass das Jugendweihegeld für die ersten Plattenspieler draufgeht. Mit 16 kauft er die ersten Platten, hart mussten sie sein – 145 BPM, die Schranz-Klassiker von CLR, Drumcode und Stigmata. Gerade als das Massenphänomen Techno zur Jahrtausendwende futsch war, zog sich die Musik wieder in den Underground zurück. Während Kompakt, Dial und Perlon die Minimal-Welle ins Rollen brachten, entfaltete sich Rødhåds Interesse beinahe konträr zur gängigen Entwicklung: „Schranz ist immer krasser geworden und war vollkommen ausgelutscht. Alles hat sich gleich angehört, nur noch Distortions, immer voll besetzt. Als alle dann nur noch Klicker-Klacker-Minimal gehört haben, fing ich an, mir Dub-Sachen von Maurizio und Basic Channel zu kaufen. Langsame, ruhige, sphärische und deepe Sachen. Kein Abfahrtszeug mehr, sondern eher die kopflastigere Schiene.“

Spacehall statt Hard Wax

Mike spricht ruhig, berlinert wie es sich gehört in jedem Satz und die Sommersprossen im Gesicht lassen ihn jünger erscheinen. Bei Erinnerungslücken geht er mit beiden Händen durch das rot-orangene Haar, so als würde er durch das Streichen die Erlebnisse der Vergangenheit hervorziehen können. Doch vor mir sitzt kein Mann, der restlos von sich überzeugt ist. Er hat keine musikalische Ausbildung, keine Ahnung von Noten – ein klassischer Autodidakt, den eine gesunde Portion Unsicherheit auszeichnet. Und ganz sicher ist er kein Freund von Romantisierungen. Das 80db, eine kleine Disse im Berliner Osten, wo er seine erste Residency hatte, nennt er heute „einen verranzten Scheißladen“. Bedeutsam war hingegen der Zementgarten nahe der Frankfurter Allee. „Dort habe ich gelernt, eine Stimmung für eine Nacht aufzubauen. Der Anfang oder das Ende sind meine Lieblingsslots. Gerade den Anfang machen ist schwer, wann muss ich anziehen, wann muss ich die Leute warten lassen, sodass man überhaupt eine Spannung aufbaut. Diesen Bogen hinzubekommen, ist die größte Herausforderung.“ Ob der Dice Club in Mitte, Diller im Prenzlauer Berg, Raum 18 in Neukölln oder das Horst in Kreuzberg – die Clubs, in denen Rødhåd seine ersten Sporen verdiente, werden nicht nur nicht in Felix Denks und Sven von Thülens Buch Der Klang der Familie geführt, viele von ihnen sind heute bereits wieder geschlossen – die Post-Neunziger. Andere Zeiten, andere Generation. Er besuchte das Ostgut zwei, drei Mal, spielte aber nie dort – er ist 19 Jahre jung, als es schließt. Er ist nicht durch Hard Wax sozialisiert, noch heute geht er lieber in die Space Hall. „Ich habe auch zwei Jahre regelmäßig im Golden Gate aufgelegt, aber trotzdem war ich kein Teil der ganzen Crews, die Partys geschmissen haben, ich war ein Alleingänger. Ich wollte mir halt nicht den Namen von anderen hinter meinen Namen schreiben lassen, deswegen haben wir dann 2009 Dystopian gegründet.“ Dabei ging es nicht nur um eine gemeinsame Party, sondern darum mit Freunden etwas zu bewegen. Durch die Verbindungen zur Kunstszene sollte etwas Ganzheitliches entstehen – und wenn alles passt vielleicht auch eine Plattform für seine Releases. Passte alles, und so kommt 2012 das Label hinzu.

 


Download: RødhådGroove Podcast 33

 

Die erste Party liest sich mit Rødhåd, Ben Klock, Shed und einem Live-Set von Sandwell District auch heute noch berauschend. Mit dem Arena Club wurde eine Location mit Industrie-Charakter gefunden, die das Leitmotiv angemessen verkörperte. „Die erste Party war halt eine klare Ansage“, schmunzelt der Berliner Jung. Als eine frische Erweiterung zum omnipräsenten Berghain-Sound war die unregelmäßige Partyreihe lange Zeit die einzige Techno-Veranstaltung Freitagnachts. Warum aber Dystopian? „Das kommt von einer Weltanschauung, die wir alle teilen. Wir sind ja alles Berliner Großstadtkinder und sehen, was um uns herum passiert. Wenn ich an eine dystopische Zukunft denke, sehe ich immer Menschen im Untergrund. Den Morlocks, den unterdrückten Menschen, geht es schlecht, aber trotzdem steigt da unten eine Party. Heute sind halt die großen Techno-Clubs die Tempel, wo die Morlocks ihren Rave machen.“ Natürlich ist das ein thematischer Rahmen, der zwar begrenzt ist, dafür aber als Erinnerung und Warnung gleichermaßen fungiert. Von den drei Rødhåd-Releases („1984“, „Blindness“ und „Red Rising EP“) über Recondites EPs („EC10“ und „Nadsat“) bis hin zur aktuellen „Stalker EP“ von Alex.Do – jede Veröffentlichung ist eine Anspielung auf klassische dystopische Bücher oder Filme.

Sven Väth & Ben Klock

Gerade mit dem jüngsten Dystopian-Mitglied Alex.Do teilt Rødhåd eine große Passion aus der Jugend: Graffiti. „Ich habe damals das Buch On The Run von Odem, dem Berliner Sprüher-King der Neunziger gelesen“, sagt der in Hellersdorf geborene und in Neuenhagen aufgewachsene 23-jährige Alex im Park nahe seiner Wohnung. „Das hat mich total umgehauen, das Sprühen war genau mein Ding. Ich hatte eine große Leidenschaft für die Analyse der Verformungen von Buchstaben. Ich habe das zwar nie als dummen Jungenstreich oder Schmiererei abgetan, aber als es immer mehr Probleme mit der Polizei gab, hat mich dieses Selbstfindungsding eher behindert.“ Mike nennt seine Sprüherphase heute „richtigen Quatsch“, für ihn war eher die soziale Komponente wichtig – das Zusammensein mit Freunde, der Austausch von Erfahrungen. Damals war er mit einem Freund unterwegs, der ebenfalls rote Haare hatte. Gemeinsam waren sie die Redheads.

 

Alex.Do

 

Kennengelernt haben sich Alex und Mike über die restreale Internet-Community. Alex postete hin und wieder seine Mixe, um Feedback zu bekommen. Bei der Klangsucht-Party „Reisen macht den Kopf frei“ kommen sie das erste Mal persönlich in Kontakt „und dann war alles geregelt. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und dann war sowieso alles klar, wir hatten eh schon die ganze Zeit Bock aufeinander“, erinnert sich Alex. Mit großen Augen erzählt er von seiner ersten Tresor-Erfahrung – alleine ist er hin, weil keiner seiner Neuenhagener Freunde mitwollte. Das Licht, die Lautstärke und um sieben Uhr morgens waren die Leute immer noch am Ausrasten. Die Wirkung auf den damals 17-Jährigen hätte kaum größer sein können. Im gleichen Jahr werden die ersten Platten gekauft, mit 18 Plattenspieler und Mischpult – zum Unverständnis seiner Eltern. Videos von Sven Väth auf der Loveparade werden studiert und gefeiert. Wie Mike kommt Alex über das Raven zur elektronischen Musik. Arena war der erste Club, in den er regelmäßig gegangen ist. Bis 2008, dann das erste Mal Berghain. „Als ich das immer mehr kennengelernt habe, war eh alles vorbei“, schmunzelt der Jungspund, der sich selbst als Perfektionisten beschreibt. Egal ob er von seiner HipHop-Phase spricht, dem Berghain-Set von Freund Don Williams, der seinen ersten veröffentlichten Track „Concrete“ von der „Béton Brut EP“ in Alex’ Anwesenheit spielte, oder von seinem wichtigsten Einfluss Ben Klock – beinahe stoisch sitzt er vor mir, der Körper in absoluter Ruhe. Hin und wieder krault er mit Zeigefinger und Daumen sein Kinn, die klassische Denkerpose. Dabei könnte er auch euphorisch von seinem Erfolg schwärmen. Mit 23 Jahren bereits in nahezu allen relevanten Berliner Clubs gespielt zu haben, muss ihm auch erst mal jemand nachmachen. Arroganz scheint für ihn ein Fremdwort zu sein, sein Antrieb ist die Neugier. Zum Beispiel beim Produzieren: „Ich wollte einfach mal gucken, wie das geht, was man für Möglichkeiten hat. Mike hat natürlich vor mir angefangen, wir haben immer zu Hause zusammen gejammt, doch mir hat das Produzieren nie so viel gegeben wie das Auflegen. Das ist zum Teil auch noch heute so, aber mittlerweile macht es mir Spaß immer besser zu werden.“

Inner Circle & Outsider

Im Trouw sieht man ihm den Spaß von Track zu Track an. Alex ist der einzige DJ des Weekenders, der hinter den Decks tatsächlich tanzt. Der Main Room ist ein langer und hoher Tunnel, rechts und links entlang der Außenseiten sind zwei kleine Stufen, auf denen man den gesamten Floor überblicken kann. An Wand und Decke sind akustische Sound-Panels angebracht, die den Schall absorbieren. Hinter der Booth ist eine kleine Bühne, auf der vereinzelt Leute tanzen. Für Alex eine tolle Herausforderung, einen halbleeren Floor zu bespielen, mehr Arbeit sei das, die Crowd auch am Leben zu halten. Immer wieder arbeitet er an filigranen, minutenlangen Übergängen, alles soll ineinander fließen. „The Tetra“ von Alan Fitzpatrick mit den synkopierten Claps und melodischen Stabs geht nahtlos in ein Detroit-infiziertes Stück des Franzosen John Thomas über, nur um mit Len Fakis „Rainbow Delta“ den 2007er Berghain-Sound ins Trouw zu transportieren. Die Meute johlt, Hände und Fäuste gehen in die Höhe, eine Art Trademark-Move des äußerst jungen Publikums. Alex spricht von Schichten, die er sich bildlich vorstellt, wenn die Tracks ineinander übergreifen. Dabei schwebt sein Sound hin und wieder, deepe Chords, perfekt ins Szene gesetzte Percussion und stets kontemplative Momente.

 


Download: Alex.DoAm Deck 05

 

„An Alex schätze ich seine musikalische Weitsicht. Er hat einen sehr weit gefächerten Geschmack und die Flexibilität, die er als DJ zeigt, baut er hoffentlich noch weiter aus“, sagt sein ehemaliger WG-Mitbewohner Recondite. Dieser kannte Alex bereits über das Internet, als sein Zimmer frei wurde, ist der perfekte Zufall besiegelt. Friedlich, kooperativ und respektvoll bezeichnet der aus Niederbayern stammende Physiotherapeut das gemeinsame Zusammenleben. Das klingt distanziert und verweist auf seine Art Ausnahmestellung. Weder ist Recondite Ur-Berliner noch kommt er aus der elektronischen Musik. Dabei gründete er bereits sein eigenes Label Plangent ein Jahr vor Dystopian, schenkte ihnen aber mit „Cleric“ den ersten großen Hit des Labels und releaste auch andernorts auf Hotflush, Ghostly International, Innervisions und sein großartiges Debüt „On Acid“ auf Absurd Recordings. Viel mehr als Alex und Mike ist der Live-Act vom Minimal-Sound der Nullerjahre beeinflusst. Seine Produktionen reflektieren sowohl seine Liebe zur Natur als auch eine entschleunigte Melancholie, die ein Kontrastpunkt zum harten Techno darstellt. Seine Identifikation mit Dystopian? „Naja, ich glaube es gibt bei uns in der Crew Leute, die sich damit besser identifizieren können als ich. Dennoch widerstrebt mir die Idee des Endzeithaften, Industriellen und Urbanen nicht. Grundsätzlich bin ich ein Freund von Zweck-Pessimismus, was mich der dystopischen Idee doch näher bringt, als ich es vielleicht glaube“, gibt er zu. Recondite ist die Produktionsmaschine des Trios, Remixe sind manchmal innerhalb eines Tages fertig und auch die kommenden Releases sind bereits in der Pipeline.

 

„Grundsätzlich bin ich ein Freund von Zweck-Pessimismus, was mich der dystopischen Idee doch näher bringt, als ich es vielleicht glaube.“ Recondite

 

Beim Trouw-Dinner spricht der älteste der Gruppe äußerst besonnen, wägt seine Worte genau ab und dennoch ist zwischen den Zeilen eine manifeste Unzufriedenheit zu hören. Der ewig gleiche Hi-Hat-Techno ödet Recondite an, seine Tracks sind eine bewusste Abkehr und als Gegenposition deutbar. Das viele Reisen ohne Begleitung macht ihm zu schaffen, sagt er. „Momentan bin ich damit beschäftigt, eine Balance zu erlangen und Strategien zu finden, den kräftezehrenden Tour-Alltag so ökonomisch wie irgendwie möglich zu gestalten. Mir fehlt einfach die Zeit, um entspannt Musik zu machen, meine Freundin zu sehen, in die Natur zu gehen oder einfach nur banal abzuhängen. Das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau, aber objektiv gesehen ist ein Wochenende mit drei oder vier Auftritten und sieben Flügen, wenig Schlaf bei lauter Musik in dunklen Räumen einfach anstrengend.“

 

Recondite

 

Die viel gebuchten DJs und Produzenten wissen, wovon er spricht. Doch nur wenige trauen sich die Wahrheit derart offen auszusprechen. Natürlich fügt er hinzu, der Erfolg sei Fluch und Segen zugleich und man nimmt ihm ab, dass er seinen Status Quo trotzdem ausreichend wertschätzt. „Er ist halt anders“, meint Alex. „Recondite ist ein super Gegenpol, ein anderer Quell an Inspiration. Ich schätze seinen melancholischen Touch, da gibt es tolle Parallelen zu mir. Wir hatten schon viele coole Gespräche, er ist wirklich ein heller Kopf, mit dem man wunderbar über Weltanschauungen sprechen kann. Ist ja auch toll, dass er nicht so einen stringenten Donnertechno macht, sondern eher mellow und moody. Seine Tracks sprechen mein Herz an, ich habe Megarespekt vor seinem Zeug.“

Wasser statt Champagner

Mike hat indes Respekt vor seiner Freundin, die ihn vor seinem Set im Trouw doch zu einem Wodka überreden kann. Danach wird sich erst mal ausgiebig an der Bar gedehnt – ohne jegliche Scham. Würde sich ein Ben Klock an der Bar geschlagene zehn Minuten warmmachen? Sekundär. Trotzdem interessant, dass nach dem Dystopian-Weekender seine Klockworks-Gefolgschaft direkt übernimmt. Während Alex, Mike und Recondite bei ihren Sets Wasser trinken, genießt Klock kaltgestellten Champagner. Doch Stilfragen machen nicht (nur) den Unterschied. Von der Party-Reihe zum Label zur Booking-Agentur für befreundete Künstler wie Ron Albrecht, Don Williams, Felix K oder Distant Echoes, der im Trouw sein Debüt spielte – bei den Berlinern ist alles natürlich gewachsen. Dystopian ist ein Berliner Phänomen, das mit der Graffiti-Vergangenheit nicht nur aus der rebellierenden Mitte der Gesellschaft kommt, sondern – gerade im Fall von Rødhåd – allein durch Gigs und einem holistischen Konzept zum Erfolg reifte. „Alles zerfällt doch zunehmend. Wir hinterlassen Spuren im Internet, Straßen und Demos werden gefilmt, durch Handys sind wir immer zu orten und es werden immer noch Kriege geführt, um Menschen zu unterdrücken. Das ist die Realität, wir leben in einer Dystopie“, gibt Mike zu verstehen. Kein Wunder, dass er sein Set mit „Decay“ von Efdemin beginnt. Vielleicht muss man das abgedroschen Zeitgeist-Techno nennen, vielleicht konnte so eine Plattform auch nur in Berlin entstehen. Das hypnotische, deepe und stets düstere Set von Rødhåd an diesem Sonntagabend zeigt jedenfalls, dass Dystopian genug hat vom neunziger-romantisierten Hedonismus. Als er gegen Ende mit „Kill 100“ von X-Press 2 im Carl Craig-Remix das Trouw in ein ekstatisches Meer aus Morlocks verwandelt, machen die ersten Lyrics dieser Acid-Techno-Pop-Hymne mehr Sinn als jemals zuvor: „Four walls sorround me. Don’t think, don’t speak. Just listen.“

 

Die „Stalker EP“ von Alex.Do ist bei Dystopian erschienen.

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