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ZEITGESCHICHTEN Cajmere / Green Velvet

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Text: Alexis Waltz
Erstmals erschienen in Groove 139 (November/Dezember 2012)

Kaum ein Musiker brachte das euphorische, ekstatische Lebensgefühl des House und Techno der neunziger Jahre so auf den Punkt wie Curtis Alan Jones mit seinen Acts Cajmere und Green Velvet. Jetzt feiert er mit seinem Chicagoer Label Cajual zwanzigjähriges Jubiläum.

Fingers Inc., Phuture, Aux88, Inner City – von Mitte der achtziger Jahre an versuchten House- und Techno-Musiker aus Chicago und Detroit, Acts zu erfinden, die poppige Wiedererkennbarkeit und Clubaffinität vereinten. Kaum einem Produzenten ist diese Verbindung so gelungen wie Curtis Alan Jones aus Chicago. Unter dem Alias Green Velvet veröffentlichte er ab 1992 Hits wie „Preacher Man“, „Flash“ oder „Answering Machine“. Bei diesen Stücken verband er packende, genial einfache Song-Ideen an der Grenze zur dadaistischen Sinnlosigkeit mit dem Synthesizer-Wahnsinn des Neunziger-Technos. Mal basierten die Songs auf Samples, mal auf wenigen, von ihm selbst gesprochenen Sätzen. Gerade weil seine Produktionen so skizzenhaft hin gerotzt klangen, war an ihnen alles richtig. Jones bündelte eine enorme Energie und seine Arbeit handelte dabei doch von Kontrollverlust. Trotzdem war er alles andere als ein Zertrümmerer musikalischer Formen. Als Cajmere verfolgte er den Chicago-House-Sound der Achtziger weiter und komponierte für Sängerinnen und Sänger wie Dajae oder Walter Phillips überraschend klassische, makellose House-Songs.

Legendär ist Jones nicht nur als Musiker, sondern auch als Labelmacher. Als Mitte der neunziger Jahre in Chicago und Detroit die Szene stagnierte, erschuf er mit seinen Labels Cajual und Relief ein neues Forum für Musiker wie DJ Sneak, Boo Williams oder Glenn Underground. Während Cajual die House-Standards der Stadt weiterführte, war Relief Chicagos Antwort auf Techno. Zwischen 1993 und 1997 erschienen dort 79 magische Platten, die einen ganz speziellen, so zerrissenen wie souligen Sound entwickelten. Beide Labels verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren, und dienen bis heute fast ausschließlich als Plattform für Jones’ eigene Produktionen. Mit „La La Land“ hatte dieser 2001 seinen größten Hit. Seitdem verlor seine Musik an Bedeutung. 2006 entdeckte der heute 45-Jährige den Glauben und schloss sich der christlich-methodistischen „Born Again“-Bewegung an.

 

 

Wo in Chicago bist du aufgewachsen?

In einem Vorort südlich von Chicago, in Markham. Der größere Teil meiner Familie lebte aber in der South Side Chicagos. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Es war nicht so gefährlich wie heute, die Menschen waren sehr freundlich. Ich habe es geliebt, draußen in der Natur zu sein und Flusskrebse, Grashüpfer, Frösche und Schildkröten zu fangen. In unserem Vorort gab es viele kleine Bäche und Seen. Ich hatte viele Freunde in der Nachbarschaft. Zusammen erkundeten wir die Wälder.

Was wolltest du damals werden?

Arzt, vielleicht sogar Chirurg. Menschen zu helfen und zu heilen: Das habe ich damals geliebt, und ich liebe das auch heute. Operator bin ich aber nur, insofern ich Leute zum Tanzen bringe.

Welche Musik hat dich als Kind beeinflusst?

Mein Vater war ein lokaler DJ. Deshalb hatten wir alle Arten von Musik bei uns zu Hause: Soul, Funk und Jazz. Er besaß nicht nur die kommerziellen Versionen, sondern auch viele Rare-Groove-Platten. Mit meinen Brüdern und Cousins haben wir seine Sammlung durchforstet. Bei uns lief wirklich immerzu Musik. Mein Vater ist durch und durch Funk. Wenn er mich besucht hat und ich ihm meine eigene Musik vorspielte, sagte er immer: Das ist cool, aber wo ist der Funk? Ich musste sie immer noch ein wenig mehr funky machen, damit er sie okay findet.

Was waren damals deine Lieblingsplatten?

Die von Parliament und Funkadelic. Ich habe auch die Plattencover geliebt. Sie waren cartoonhaft, das hat mich angesprochen. Ich liebte „Flashlight“ und viele andere Stücke. Stevie Wonder, Sly Stone und James Brown waren auch sehr wichtig. George Clinton gilt als einer der großen Exzentriker der afroamerikanischen Popmusik. Sly Stone war auch ein Original. Ich habe mich zu all jenen hingezogen gefühlt, die ein wenig anders waren.

Wie warst du in der High School drauf?

Ich war schüchtern. Und wissbegierig. Ich bin wirklich wegen dem Unterricht hingegangen. Ich habe diverse Arten von Sport gemacht, Ringkampf, Leichtathletik eben, und Football. Aber mit Football habe ich aufgehört, das war mir zu hart. Wir mussten im Sommer in vollständiger Uniform mit Helm trainieren. Ich sagte zum Coach: Das ist lächerlich. In Illinois sind im Sommer locker 35 Grad. Tatsächlich ist später ein Kind gestorben und sie haben die Regeln gelockert.

Hast du damals schon Musik gemacht?

Ich habe Altsaxofon gespielt in der Schulband. Das war in den frühen Achtzigern, da hatte man noch keine Synthesizer. Ich kannte viele Musiker, weil mein Vater auch Sänger war. Er hatte oft Musiker zu Besuch, sie spielten Jam-Sessions in unserem Keller. Ich hätte also nur meinen Vater fragen müssen. Aber das hat mich damals nicht interessiert. Ich wollte in die Schule gehen und lernen. Das war zu dieser Zeit meine Leidenschaft.

Was waren die ersten Partys, die du besucht hast?

Als Kinder haben wir kleine Partys zu Hause im Keller gefeiert. Im College gab es sogenannte Union Partys. Danach bin ich auf Partys in der Stadt gegangen. Die waren wirklich toll. Das war Mitte der achtziger Jahre, damals stand Chicago House in vollster Blüte. Das war wirklich, wirklich gut: viel Schweiß, viel Tanzen, viel Spaß. Die bekanntesten Clubs waren Warehouse und Power Plant. In diesen Clubs war ich nie. Ich habe mich für die Musik interessiert, ich musste nicht jeden Laden auschecken.

Wie hast du von der Szene erfahren? Wusste jeder, dass es diese Musik gibt, oder musste man zu den Eingeweihten gehören?

Von manchen wusste jeder, für andere musste man ein Insider sein. In den Achtzigern war alles etwas offizieller, weil die meisten Partys in Clubs stattfanden. In den neunziger Jahren gab es mehr illegale Warehouse-Partys. Trotzdem war es ein Underground-Phänomen: Man wusste nicht, was man davon halten sollte.

Wer war dein Lieblings-DJ?

Farley Jackmaster Funk, auch wegen seiner Radio-Show. Lil´ Louis habe ich nie auflegen gehört, aber seine Platten waren sehr wichtig für mich. Eine Platte, die mich wirklich fasziniert hat, war (Who’s Afraid Of?) The Art Of Noise! der britischen Band The Art Of Noise. Die war so was von bizarr! Und natürlich die Platten von Grace Jones.

Wann begann deine Faszination für europäischen Synthie-Pop?

Als wir Liaisons Dangereuses entdeckt haben. Das war für uns in Amerika Avantgarde, wir haben es aber geliebt! Es gab diese drei Songs von ihnen, die liefen auf jeder Party. Es gab schon so was wie eine House-Kultur. Ich trug Schuhe von Zodiac, weite Hosen und einen Box Cut wie [das Rap-Duo] Kid ‘n Play. Ich war House von Kopf bis Fuß.

 

„Ich war House von Kopf bis Fuß.“

 

Zu der Zeit warst du Student und wolltest Ingenieur in der Chemieindustrie werden.

Ganz genau. Ich liebte Mathematik. Ich wusste aber nicht, was ich als Mathematiker hätte arbeiten sollen. Deshalb habe ich Chemie-Ingenieurwesen studiert, weil ich sehr gut in Mathe war und passabel in Chemie. Ich habe mich aber entschieden, das Studium abzubrechen, als ich während eines Praktikums bei einer entsprechenden Firma arbeitete. Dort wurde mir klar, wie mein Leben sein würde. Da sah ich mich nicht.

Was hat dich abgestoßen?

Ich kam aus der Clubwelt, wo jeder die Einstellung hatte (singt): „Uhuh, das Leben ist gut, das Leben ist toll.“ Dann kam ich in diesen Betrieb, wo die Menschen nicht wirkten, als würde ihnen ihr Leben Vergnügen bereiten. Ich wollte unter Menschen sein, bei denen das so ist. Ich habe dann mein Studium abgebrochen. Ich nahm mir vor, so viel wie möglich über das Musik machen zu lernen. Natürlich spielte meine Familie verrückt. Aber sie waren geduldig. Am Anfang war meine Musik überhaupt nicht gut, aber mit der Zeit wurde ich besser. Ich war wirklich entschlossen, dass es mit der Musik klappt.

Wie sah dein Studio aus?

Viele meiner großen Nummern habe ich auf ganz billigem Zeug gemacht. „Flash“ und viele andere Green Velvet-Stücke habe ich mit einem Keyboard von Yamaha aufgenommen, dem PSS-480 oder dem PSS-690. Die bekommt man heute für 100 Dollar auf Ebay, damals waren sie auch schon sehr günstig. Und ich hatte eine Drumaschine und einen Vier-Spur-Recorder. Einen Sequential Circuits Pro One-Synthesizer kaufte ich mir etwas später, als ich schon Geld verdiente. Der hat ein paar Hundert Dollar gekostet.

 


Stream: Green VelvetFlash (1995)

 

Deine ersten Platten erschienen auf einem Label namens Clubhouse. Wie hast du die Leute dahinter kennengelernt?

Das war das Label von Hula und K. Fingers. Hula kannte ich schon seit meiner Kindheit, wir waren sehr enge Freunde. Wir haben zusammen Krebse gesammelt.

Wie kamst du auf das Alias Cajmere?

Über meine Initialen: CAJ. Ich war für einige Zeit C.A.J., dann wollte ich ein wenig clever sein und wurde Cajmere.

Mit „Percolator“ hattest du auch gleich einen großen Hit.

Der Song war ein Remix eines anderen Songs, der wiederum ein Remix eines weiteren Songs war. „Percolator“ ist also die dritte Version. Zuerst gab es „Keep Moving“. Ich fand, dass die Leute dieses Stücke nicht angemessen würdigten. Deshalb habe ich es noch mal in einer neuen Version auf eine andere EP genommen. Diesmal hieß es „Coffee Pot“. Auf dieser Platte war auch „Chit Chat“, das sehr gut lief. Tony Humphries spielte es oft in New Jersey, er war damals ein sehr einflussreicher DJ, auch im Radio in New York. Deshalb remixte ich alle Stücke dieser EP für die folgende EP und so wurde aus „Coffee Pot“ „Percolator“. Wenn „Chit Chat“ nicht so erfolgreich gewesen wäre, hätte es also „Percolator“ nie gegeben.

 


Stream: CajmereChit Chat (Clubhouse Remix)

 

Wie wurden deine ersten Platten wahrgenommen?

Mit der Zeit wurden meine Platten so populär, dass die Leute bei Clubhouse sagten: Du musst weniger herausbringen, sonst denken die Leute, dass es dein Label ist.

Wie hat sich das angefühlt? Du warst fast vom ersten Moment an erfolgreich.

Ich war dankbar. Und glücklich, dass ich machen konnte, was ich liebe. Ich habe nicht das große Geld gemacht, aber das war mir egal. Damals lag eine typische, gut laufende EP bei 2.500 bis 5.000 Exemplaren. Natürlich lief „Percolator“ wesentlich besser.

Warum hast du Cajual gegründet?

Nachdem „Percolator“ in Chicago so groß war, wollte ich mich weiterentwickeln. Ich hatte auch kleinere Schwierigkeiten mit Clubhouse. Um völlig frei zu sein, startete ich kurzerhand mein eigenes Label. Ich wusste nicht, wie man das macht, und hatte keine Ahnung, was ich tat.

Wie hast du es geschafft, so schnell so viele Platten zu veröffentlichen?

Wenn ich mich wirklich um etwas bemühe, funktioniert es meistens auch. Aber nicht immer: Es gab eine Zeit, als ich an meinem tiefsten Punkt war, an dem ich glaubte, ich müsste aufs College zurückgehen. Da dachte ich, es sei ein dummer, törichter Traum gewesen, Künstler und Musiker sein zu wollen. Mein Gesicht war mit Tränen bedeckt und ich betete. Gott hat mir dann geholfen. Das ist wahr, ich habe das nicht erfunden.

 

„Ich war am Boden, habe geweint und gebetet – und Gott hat mir geholfen. Das ist wahr, ich habe das nicht erfunden!“

 

Wann war das?

Im Winter und Frühling 1992/93. Direkt danach habe ich für Lidell Townsell „Get With U“ produziert. Townsell war ein House-Artist aus Chicago, der so erfolgreich war, dass er von einem Major gesignt wurde. Das Gute an diesem Song war, dass er mir ermöglichte, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich konnte ein Auto kaufen und Benzin, um damit zu fahren. „Get With U“ wurde von David Morales geremixt, einige Monate später machte ich „Percolator“ und wiederum einige Monate darauf startete ich mein Label. Von da an lief alles von selbst.

Wie hast du all die Künster wie Boo Wiliams, Johnny Fiasco, DJ Sneak oder Glenn Underground getroffen?

Das ist einfach passiert. Die Künstler haben von uns über andere Künstler erfahren und so wuchsen wir stetig. Ich erledigte das Administrative und Geschäftliche, weil ich mit meinem Chemieingenieurs-Studium über hervorragende organisatorische Fähigkeiten verfügte. Dann hatte ich Derrick Carter. Der ist eine People-Person. Deshalb kümmerte er sich um die Promotion. Spencer Kensey erledigte den Vertrieb. Das war der ursprüngliche Stab. Das hat Spaß gemacht, wir haben auch sehr hart gearbeitet.

Aber du hattest mit Cajmere und Cajual nicht genug und erfandest deinen Alias Green Velvet.

Der Punkt war nicht, dass mir Cajmere nicht gereicht hat. Ich erfand Green Velvet, um meine Cajmere-Fans nicht zu verwirren. Sie mochten Vocals und House-Sounds. Wenn ich was machte, was kantiger war, sagten sie: „Was soll denn das jetzt?“ Das war eine praktische Notwendigkeit, es gab keinen größeren Plan. Deshalb habe ich auch das Label Relief gegründet. Mich interessierten in Chicago zwei Szenen, die House-Szene mit den Leuten, die House immer noch liebten und wollten, dass es damit weitergeht. Dann gab es die Szene mit neuer Musik. Um diese Musik herauszubringen zu können, gründete ich Relief.

Wie klang dieser neue Stil?

Es war immer noch der Chicago-Sound, er hatte aber keine Vocals. Es war auch kein Acid House. Wir nannten es einfach „Tracks“.

Wie kamst du darauf, deine Haare grün zu färben?

Das hat sich ergeben. Ich habe immer getan, was mir im Moment gefallen hat. Aber natürlich verdienen Sly Stone, Parliament, Grace Jones und David Bowie Kredit. Von ihnen habe ich gelernt.

Für deinen Green Velvet-Hit „Preacher Man“ hast du die intensive Rede eines Predigers verwendet. Wie kam es dazu?

Der „Preacher Man“ war ein Prediger von der South Side Chicagos. Ich wollte einen Track mit einem Gospel-Vocal machen. Deshalb nahm ich das Programm einer Gospel-Station auf. Ich erinnere mich noch genau: Es war ein Freitagabend, ich drückte auf Aufnahme und ging auf eine Party. Als ich zurückkam, hörte ich die Aufnahme an und konnte es nicht glauben: Der redet von House! Der Rest ist Geschichte.

Wie sah die A&R-Arbeit für das Label aus?

Manchmal kamen die Künstler ins Büro und spielten mir Sachen vor. Ich sagte dann so was wie: „Naja, ganz passabel.“ Manchmal gaben sie mir DAT-Kassetten voll mit Tracks und ich suchte drei oder vier aus, die sich gut als EP eigneten.

1999 erschien mit „Constant Chaos“ dein erstes Album und zeitgleich hast du dich von den anderen Künstlern auf dem Label getrennt.

Ja, das war mein erstes Album. Ich wollte nichts machen, das noch unter House geführt werden kann, sondern neuartige, elektronische Musik, so seltsam und einzigartig wie möglich. Dann gab es ein Gerücht, von dem ich erst zehn Jahre später erfahren habe: Es hieß, ich hätte einen Vertrag mit einem Label unterzeichnet und dafür eine Million Dollar kassiert. Von der Million hätte ich den Künstlern nichts gegeben und sie somit betrogen. Einen solchen Deal gab es aber nie. Jemand im Büro erzählte ihnen das aber. Ich wunderte mich, warum auf einmal alle so anders drauf waren und mich merkwürdig behandelten. Warum, habe ich erst Jahre später verstanden. Damals war mir das alles zu viel und ich beschloss, nicht weiter mit Künstlern zusammenzuarbeiten.

Dann kam „La La Land“.

„La La Land“ habe ich zum ersten Mal in Rotterdam gespielt. Das werde ich nie vergessen. Ich war so aufgeregt: Ich dachte, der Song wird groß. Ich sagte zur den Jungs in der Band: Wir spielen das Stück als erstes. Aber die Leute schauten uns an, als seien wir Außerirdische. Sie mochten es überhaupt nicht und riefen: Spiel „Answering Machine“, spiel „Flash“. Das Label, Music Man, mochte „La La Land“ auch nicht. Sie fanden, es hätte zu viele Vocals.

Wenig später hattest du eine Art spirituelles Erlebnis und hast zum Glauben gefunden, richtig?

Am besten trifft man es, wenn man sagt, dass ich ein verlorenes Schaf war. Dann machte ich meinen Weg zurück. Am Anfang habe ich positive, erhebende Songs produziert. Dann hatte ich eine düstere Zeit. Von dort kehrte ich zurück. Es gab auch eine konkrete Erfahrung: Jemand tat etwas in meinen Drink. Ich dachte, ich müsste sterben. Aber ich betete und überlebte. Ich habe viel aus dieser Erfahrung gelernt: Es gibt auch Menschen, die dir etwas in den Drink tun, nur um zu sehen, was passiert. Aber: Ich bin cool damit, ich hab’s geschafft, das Leben ist gut, Gott ist gut. (lacht)

Wie erlebst du aus dieser geläuterten Sichtweise die Clubszene?

Ich bin Teil der Clubszene, ich bin ihr Produkt. Ich war von Tag eins an dabei. Wir machen alle unsere Erfahrungen und jeder zieht seine individuellen Konsequenzen.

Kannst du ein Stück wie „La La Land“ noch guten Gewissens spielen?

Ich produzierte „La La Land“, weil ich einen Freund hatte, der zu viele Pillen und andere Drogen nahm. Mit dem Song wollte ich ihn davon abbringen und das hat funktioniert. Das Stück ermöglicht den Feiernden, ihre Erfahrungen mit anderen Augen zu sehen. Insofern habe ich kein Problem mit „La La Land“.

Was steht jetzt für dich an?

Wir feiern das zwanzigjährige Jubiläum von Cajual. Ich habe die unterschiedlichsten Seiten der Industrie erlebt und ich bin froh, dass ich immer noch leidenschaftlich bin, was die Musik angeht. Demnächst werden ich mit Jamie Principle, Jamie Jones, Maceo Plex und Seth Troxler zusammenarbeiten.

Hast du noch Kontakt zu den Künstlern von früher?

Glenn [Underground], Boo [Williams] und Braxton Holmes habe ich gerade getroffen. Als ich ihnen erzählte, warum alles aufgehört hat, sagten sie, dass sie die Geschichte kennen. Sie dachten, ich wüsste davon und haben deshalb nichts gesagt. So hat es zehn Jahre gedauert, bis es sich aufgeklärt hat.

Ein tragisches Missverständnis.

(lacht) Das ist wild. Wenn man nichts unternimmt, kann ein einziges Missverständnis Verwüstung und Chaos anrichten.

 

Die Compilation Only 4 You: The Sound Of Cajmere & Cajual Records 1992-2012 ist bei Strut Records erschienen.

 


 

Drei Cajmere- / Green Velvet-Klassiker:

 

Green VelvetPreacher Man (Relief Records, 1993)

Dieser Green Velvet-Hit basiert auf einem Witz: Das zweitbeliebteste Spiel, das wir als Kinder spielten, war „House“, berichtet ein vor Sendungsbewusstsein strotzender Priester am Anfang der Nummer. Er meint damit aber nicht den Musikstil, sondern ein Kinderspiel. In diesen Sermon bratzt eine Bassline, stumpf, dysfunktional, assig. Erst Takte später fügen sich die widerstrebenden, hämmernden Sounds zu einem unwahrscheinlichen, gewaltigen Groove. Jones interessiert sich nicht für die Aussage der Predigt, wohl aber für deren Leidenschaft, und so erzeugt die Stimme dann auch eine ähnlich krasse Wirkung wie die Synthesizer-Eskapaden der Nummer.

 

Cajmere feat. Walter PhillipsOnly 4 U (Cajual, 1996)

Angesichts des Erfolgs von Green Velvet wird hierzulande oft vergessenen, was für ein herausragender Songschreiber Curtis Jones ist. Frühe Cajmere-Songs wie „Brighter Days“ mit dem Vocal von Dajae von 1992 verschmelzen einen Chicago-Klassizismus mit dem in dieser Zeit tonangebenden Strictly Rhythm- Sound aus New York. Noch konsequenter sind spätere Cajmere-Songs mit dem Sänger Walter Phillips. Der derbe Groove könnte dem innigen Vocal nicht stärker widersprechen. Trotzdem gehen beide Elemente perfekt zusammen.

 

Green VelvetLa La Land (Relief / Music Man Records, 2001)

Während vielen Musikern aus Detroit und Chicago die europäische Technoszene fremd blieb, begeisterte sie Jones. Andere waren irritiert von den riesigen Raves mit den tanzenden Massen, Jones ließ sich in diese entkoppelte Art zu feiern hineingleiten. Bei Green Velvet inspirierten ihn europäische Produktionen, „La La Land“ verarbeitete seine Feiererfahrungen auf diesem Kontinent. Der Song fasst die Gier nach Drogen, Musik und Menschen, die jeden Raver antreibt, in Worte. Jones’ manische, getriebene Stimme macht die Sehnsucht nach und die Angst vor Kontrollverlust aufs Drastischste spürbar.

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