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Zeitgeschichten: CAN

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Text: Sebastian Ingenhoff
Erstmals erschienen in Groove 138 (September/Oktober 2012)

In den Sechzigern und Siebzigern stellten Can die Musikwelt mit anarchischen Songmontagen auf den Kopf, heute werden sie meist retrospektiv in einem Atemzug mit sogenannten Krautrock-Bands wie Neu! oder Faust genannt. Doch die Kölner waren weit mehr als eine Rockband, wie auch die jüngst erschienenen The Lost Tapes beweisen. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von wiedergefundenem und fast vergessenem Material aus dem legendären Inner Space Studio in Weilerswist, wo wir Holger Czukay trafen. Irmin Schmidt lebt derzeit in Frankreich und stieß später am Telefon hinzu. Die beiden Interviews wurden anschließend montiert – ganz im Geiste Cans.

Wer sich für Clubkultur interessiert, kennt das viel zitierte Bonmot von Derrick May: „Techno ist genauso wie Detroit – ein kompletter Fehler. Es ist, als hätte man George Clinton und Kraftwerk in einen Fahrstuhl mit einem Sequenzer einsperrt, um sie gesellig zu halten.“ Kraftwerk gelten gemeinhin als Pioniere dessen, was wir unter Techno verstehen. Doch neben den Düsseldorfern gibt es natürlich noch andere wichtige Vorreiter der elektronischen Tanzmusik. Die Geschichte von Can beginnt im Jahr 1968, rund zwei Jahre vor den Anfängen von Kraftwerk. Irmin Schmidt und Holger Czukay kannten sich von ihrem Kompositionsstudium bei Karlheinz Stockhausen, komplettiert wurde die Band durch den Jazzdrummer Jaki Liebezeit und den jungen Beatgitarristen Michael Karoli. Kurze Zeit später stieß der amerikanische bildende Künstler Malcom Mooney als Sänger hinzu, kehrte nach knapp zwei Jahren jedoch in die USA zurück und wurde durch den Japaner Damo Suzuki ersetzt. Irmin Schmidt hatte sich bereits als Dirigent einen Namen gemacht und als Filmkomponist gearbeitet. Im Zuge eines New-York-Besuchs Ende der Sechziger sollte er auch in die dunkklen Abgründe von Velvet Underground eintauchen. Eine Begegnung, die Spuren hinterließ. Brian Eno hat mal gesagt: „Als die erste Velvet Underground-Platte herauskam, haben sie vielleicht nur einige Hundert Leute gekauft. Aber jeder von denen ist danach losgezogen und hat eine Band gegründet.“ So also auch Schmidt. Man könnte behaupten: Hätte man Stockhausen mit Velvet Underground eine psychedelische Oper komponieren lassen, vielleicht wäre so etwas wie Can dabei herausgekommen. Doch das würde zu kurz greifen, denn streng genommen ging es Schmidt und den anderen darum, sich von allem frei zu machen, was es in der Populärmusik zu jener Zeit gab.

Die Mission war es, eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln, die mehr sein sollte als eine der handelsüblichen Kopien angloamerikanischer Psychedelic- oder Beatmusik. Und natürlich auch die Überwindung von Albernheiten wie U- und E-Musik darstellte. Man wollte primitive Rhythmen zulassen, durch Repetition Groove erzeugen. Nicht umsonst galt Jaki Liebezeit mit seinen monotonen Beats als der Archetypus der „Mensch-Maschine“. Zudem waren die Kölner eine der ersten Gruppen überhaupt, die Feldaufnahmen integrierte, mit Montagetechniken arbeitete und allerlei technisches Gerät zu Synthesizern umfunktionierte. Der Einfluss von Can auf Bands wie Sonic Youth, Radiohead oder Public Image Limited ist unbestritten, doch auch die Clubkultur hat ihre Lehren aus dem chaotisch-produktiven Treiben der Rheinländer gezogen. Die wiederum bedankten sich und zogen mit. In der Vergangenheit hat Holger Czukay nicht nur mit Popgrößen wie Brian Eno, David Sylvian oder Annie Lennox gearbeitet, sondern ist auch mit Air Liquide-Beatbastler Dr. Walker um die Häuser gezogen. Irmin Schmidt hat schon mehrfach mit dem Kompakt-Künstler Justus Köhncke Filmmusiken komponiert. Und Jaki Liebezeit hat seine Trommlerfamilie Drums Off Chaos vor Kurzem erst um den Kölner Technoproduzenten und Labelbetreiber Jens-Uwe Beyer alias Popnoname erweitert. In diesen Tagen erscheinen die von Jono Podmore und Irmin Schmidt zusammengestellten The Lost Tapes auf Daniel Millers Label Mute.

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