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Nicolas Jaar: Lieder mit großer Kirsche (Teil 1)

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Text: Arno Raffeiner, Foto: Timothy Saccenti
Erstmals erschienen in Groove 128 (Januar/Februar 2011)

Je schneller die Karrieren, desto langsamer der Beat. So lautet der neueste Merksatz für alle Dance-Studenten. Nicolas Jaar bewies mit ein paar Maxis bei den Labels Wolf+Lamb und Circus Company, dass Jugendlichkeit und Haudrauf auch umgekehrt proportional sein können. Mit greller Überzeichnung hat der junge New Yorker nichts am Hut, die gängigen Konventionen im Club beachtet er nicht besonders, über Musik will er generell nicht zu viel wissen. Dafür vergräbt er sich umso lieber in Fachliteratur, spinnt seine eigenen Theorien über Raum und Zeit und übersetzt sie für sein Debütalbum  S p a c e  I s  O n l y  N o i s e  in Tanzlieder, wie man sie lange nicht gehört hat.

Wieder fällt der Beat ins Loch. Man kennt das Spiel: Die Kickdrum duckt sich kurz weg, springt plötzlich wieder hoch – große Freude! Aber diesmal ist irgendetwas anders. Der Rhythmus taumelt erst, fängt sich nicht mehr, stürzt dann komplett ab. Im Hintergrund schwingt ein existenzielles Rauschen und Quietschen mit, als hätte es sich jetzt ein für alle Mal ausgebremst. Zeitlupe, time stretching, Stillstand. Kein Netz, kein doppelter Boden, nur mehr endloses Driften. Bis einige der Tänzer merken, dass das ein durchaus befreiendes Gefühl sein kann. Diese Irritation samt Stauchung im Zeitkontinuum stellte sich im vergangenen Jahr regelmäßig ein, wenn ein DJ den Mut hatte, das Stück „Time For Us” bis zu seinem finalen Breakdown auszuspielen. Selbst wenn man sich in letzter Zeit an das Schritttempo von Cosmic Disco gewöhnte, Begriffe wie Slo-Mo-House erfand oder immer wieder Theo Parrish dafür bewunderte, wie er heitere Soul-Samples in schwer verschleppte Grooves überführte – so hatte man Entschleunigung auf dem House- oder Techno-Floor bisher selten erlebt.


Stream: Nicolas JaarTime For Us

Das Beat-Loch von „Time For Us” war Nicolas Jaars bisher größter Coup. Mit nicht mal einer Handvoll Maxis auf Wolf+Lamb und Circus Company sowie wenigen ausgewählten Remixen sorgte der amerikanische Produzent für enormes Echo. Seine auch nicht gerade inflationär stattfindenden Auftritte – Jaar ist mit seinem Liveset derzeit nur unterwegs, wenn ihn die Universität in die Ferien entlässt – stoßen auf immer größere Erwartungen und noch hysterischere Reaktionen. Und das bei ständig schwankendem Pulsschlag, der sich manchmal bei nur 70 bpm einpendelt. Offensichtlich gibt es viele Menschen, die nur darauf warten, dass der hermetische 4/4-Block der Dance Music aufgebrochen, auseinandergestemmt und mit luftigen neuen Eingängen versehen wird. Dass ein Jungspund wie Jaar diese Aufgabe noch dazu ohne Presslufthammer bewerkstelligt, sondern mit oberstudienratigem Bildungsballast überaus feingeistig zur Sache geht, verwundert umso mehr. Nicolas Jaar ist kein Haudrauf, er ist ein Denker. Und er meint es ernst mit der Slow-Food-Diät für die Clubkultur. „Die Idee, dass Musik immer dasselbe Tempo haben muss, ist bizarr“, sagt er. „Mein Leben hat nicht immer dasselbe Tempo. Es ist jetzt gerade schneller, am Morgen dagegen langsamer, ständig anders.“

Vielleicht ist Jaars Musik ein Symptom für das, was der französische Philosoph Paul Virilio den „dromologischen Stillstand” nennt: Wenn ausgerechnet wegen des Überflusses an Verkehrs- und Kommunikationskanälen plötzlich niemand mehr weiterkommt. Weil nämlich irgendwann alle im Datenstau stehen. Der Kulturkritiker Virilio verbindet durchaus apokalyptische Szenarien mit seiner These, Nicolas Jaar aber entwirft eine ins Positive gewendete Dromologie der Dance Music: Es scheint, als würde der Beat bei ihm wegen einer Überfülle musikalischer Einflüsse in Kürze endgültig stecken bleiben – und doch hat dieser Moment kurz vor dem Kollaps etwas sehr Genießerisches. In Jaars Liste an Lieblingstheoretikern kommt Virilio bislang allerdings nicht vor. Er zählt Henri Bergson auf, Derrida und Marx, Bourdieu und Žižek. Seine erste Maxi auf Circus Company nannte er „Marks & Angels“, die beiden Namenspatrone Karl und Friedrich ritten dazu auf Spielzeugponys durch die russisch-futuristische Geometrie des Cover-Artworks, was drollig aussah. Genauso funktioniert auch Jaars Musik: Sie ist anspielungsreich, intelligent (um nicht zu sagen: bildungsbeflissen), aber immer auch spielerisch und humorvoll genug, um ohne neunmalkluges Durchschauen der Referenzen und Hintergründe einfach Freude zu machen. Angesichts der Reife und Reflektiertheit, mit der er spricht, und mit der souveränen Abgeklärtheit und Vielschichtigkeit seiner Musik im Ohr mag man kaum glauben, wie jung Nicolas Jaar noch ist. Ab Januar 2011 darf er in den Clubs seiner Heimatstadt New York, in denen er seit rund drei Jahren auftritt, endlich auch legal ein Bier bestellen. Dann wird er 21 Jahre alt.

KEIN GEHEIMNIS MEHR

Nicolas Jaar wurde 1990 in New York geboren. Als sich seine Eltern trennten, zog er mit der Mutter noch als Kleinkind nach Chile, wo er in der Haupstadt Santiago lebte. Als die Eltern später wieder ein Paar wurden, kehrte er mit neun Jahren zurück in die USA. Seine Erziehung war französisch, die Musik, die zu Hause lief, meist afrikanisch, die Eltern waren immer in künstlerischen Berufen tätig. Der Vater Alfredo Jaar ist für Installationskunst zu Themen wie dem Völkermord in Ruanda oder dem Grenzbollwerk zwischen Mexiko und den USA bekannt geworden. In an Partymusik interessierten Kreisen außerdem auch dafür, dass er seinem Sohn eine CD von Ricardo Villalobos unter den Weihnachtsbaum legte. Die Anekdote ist inzwischen fester Bestandteil von Nicolas Jaars Künstlerbiografie. 14 Jahre alt war er damals, und die Verwirrung und Entrückung, die er beim wochenlangen Durchhören von  T h é  A u  H a r e m  D’ A r c h i m è d e  empfand, veränderten seine Herangehensweise an Musik nachhaltig. Zur selben Zeit absolvierte Jaar auch die einzigen zwei Klavierstunden seines Lebens. Die hätten ihn allerdings nur verdorben und beim unbefangenen Musizieren behindert, sagt er heute: „Als ich Klavierstunden genommen und Tonleitern gelernt habe, merkte ich: Das ist plötzlich so einfach! Diese Note passt zu der hier, die da zu jener anderen – es gab kein Geheimnis mehr. Das hat mir sehr geschadet. So viel will ich über Musik gar nicht wissen. Ich bevorzuge es, andere Dinge zu lernen, und versuche dann, sie in Musik zu übersetzen.“

Von seinem Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft an der Brown University erzählt Jaar daher nur mit Begeisterung. Er muss sich sehr wohl fühlen an der zur elitären Ivy League gehörenden Universität in Providence, Rhode Island, rund drei Zugstunden entfernt von New York. Musik soll aus Ideen schöpfen, nicht aus anderer Musik, sagt er. „Ich will ohne musikalische Einflüsse arbeiten. Mir ist natürlich bewusst, dass das absolut unmöglich ist. Aber ich versuche es trotzdem.” Beim Gespräch in einem Berliner Hotel, am Vortag seines ersten Auftritts in der Panorama Bar, wirkt es manchmal, als würde Jaar gerade die Thesen einer wissenschaftlichen Arbeit verteidigen. Er trägt vor, erklärt, benutzt präzise sprachliche Bilder, alles in ebenso sicherem wie überzeugendem Tonfall. Die wenigen Gäste im Restaurant des Hotels drehen sich um und recken ihre Hälse, um zu sehen, wer da so lautstark und ein wenig selbstverliebt doziert. „Okay, zwei Dinge dazu“, stellt Jaar etwa seinen Ausführungen voran und hakt das entsprechende Thema dann Punkt für Punkt ab. Nie wirkt er um eine Antwort verlegen, im Gegenteil, gerade wenn man denkt, es könnte hakelig werden, kontert er wie ein Rhetorikprofi: „Du möchtest ein Beispiel für meine Übertragung theoretischer Ideen auf Musik hören? Aber sicher, ich kann dir ein ausgezeichnetes Beispiel geben …” Man könnte sich gut vorstellen, dass er nach einer frühen, erfolgreichen Karriere als Musiker und Produzent irgendwann, immer noch jung, auf dem Lehrstuhl einer US-Eliteuniversität landet, als Experte für Modulationen im Raum-Zeit-Kontinuum zum Beispiel. Falls ihm so ein Job nicht doch schnell zu langweilig wird.

KONTEXT IST ALLES

„The Student” war der Titel von Jaars erster EP, die im Frühling 2008 als Digital-Release bei Wolf+Lamb erschien. Er erinnert sich daran, wie ihn die Label-Macher Gadi Mizrahi und Zev Eisenberg in ihr Clubwohnzimmer in Brooklyn einluden, das mittlerweile mit einiger legendären Patina (sowie Eintrittspreisen von rund 50 Dollar) ausgestattete Marcy Hotel. „Gadi hatte einen Song von mir gehört und meinte, ich sollte vorbeikommen, nur zum Abhängen. Das Marcy ist ein Ort mit einer besonderen Aura, auf bestimmte Weise düster, sehr speziell. Mit 17 Jahren war ich zum ersten Mal dort, und sie spielten mein Stück ‚The Student‘. Meine erste Erfahrung im Club war also, meine eigene Musik in einem völlig anderen Kontext zu hören. Ich erlebte sie auf ganz andere Weise neu, es war eigenartig. Ich hatte das Stück in nostalgischer Stimmung bei mir zu Hause aufgenommen, und im Marcy war es sehr emotional, aber auch apokalyptisch, auf gewisse Weise druggy. Lauter Dinge, die ich überhaupt nicht im Sinn hatte, ich nehme überhaupt keine Drogen. Aber so kann ein Song zu etwas ganz anderem werden. Kontext ist alles.“

Stream: Nicolas Jaar feat. Will EpsteinHage Chahine (von der EP “The Student”, 2008)

Ähnliche Kontextverschiebungen wie an diesem ersten Abend im Marcy Hotel führen dazu, dass Nicolas Jaar als eines der größten Talente gehandelt wird, das die elektronische Musik derzeit zu bieten hat: Piano-Jazz im Club, 90 bpm auf der Tanzfläche, und plötzlich ist alles so aufregend anders! „Don’t Believe The Hype” ist der bezeichnende Titel eines Stücks, das Jaar im Herbst auf weißem 10-Inch-Vinyl beim Wolf+Lamb-Sublabel Double Standard veröffentlichte: Public-Enemy-Zitat und zugleich Warnung an das Publikum und das eigene Ego. Denn Jaar ist selbst der Erste, der einem erklärt, mit den üblichen Spielregeln der Clubkultur nichts am Hut zu haben. Um die simpelsten der gängigen Konventionen – gleichbleibendes Tempo, Kickdrum, Basslast, Lautstärke, Kompression – scheint er sich nicht besonders zu kümmern. Seine Stücke leben dagegen von ihrer Transparenz, oft wirkt es, als würde zwischen zwei weit entfernten Taktschlägen ein Tor aufgestoßen, um möglichst vielfältige Einflüsse durchzuwinken: lateinamerikanische Musik, Jazz und Chanson, clubferne Epochen wie die fünfziger und sechziger Jahre. Die Begegnung mit elektronischer Tanzmusik bei Villalobos war für Jaar auch kein Party-, sondern ein Hörerlebnis. Für ihn muss es bei Musik zuallererst ums Hinhören gehen, also um einen durchaus mit Kopfarbeit verbundenen Prozess: aufmerken, verarbeiten, mitdenken. Seine Stücke sind bis ins kleinste Detail hinein gestaltet: „Ich lasse ein Instrument nie unberührt. Ich verändere immer einzelne Frequenzen, damit es anders klingt. Ich verändere die Textur, damit der Bass nicht einfach nur nach Bass klingt, sondern man noch andere Dinge darin hören kann.” Erst in einem zweiten Schritt wird dann auch der restliche Körper von den Ergebnissen dieser Manipulationen zum Tanzen verführt.

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